Über Verwesentlichung. Ein Auszug.
Man fragt sich wie sie so viel Macht bekommen, die Verwesentlicher.
»Die Diagnose ist eindeutig, Sie sind depressiv! Gehen Sie sofort in eine Anstalt. Sie sind eine Gefahr für sich und ihr Umfeld.« Und was ist mit der Gefahr, die in der Umgebung liegt, in deren Beziehung ich so etwas entwickelt habe, was Menschen „Depression“ nennen?
„Kunst ist einfach nicht Ihre Stärke. Konzentrieren Sie sich auf etwas anderes, etwas, mit dem Sie glücklich werden und in der Gesellschaft bestehen können. Maschinenbau zum Beispiel. Sie sind doch technisch begabt.“
„Sie sind eine „6“, Verzeihung haben eine „6“. Freudscher Versprecher.“ »Na und, ich hasse Mathe und werd‘s eh nie lernen.«
Glaubst du wirklich, es gibt Menschen, die ihrer Natur nach Mathe können, die ihrer Natur nach böse sind, die ihrer Natur nach sportlich begabt sind? Glaubst du wirklich, was du sagst, wenn du sagst, die Querdenker:innen sind Spinner, wenn du sagst, die Grünen sind naiv, wenn du sagst, die Schulabbrecher:innen sind Schwächlinge? All diese Kurzschlussaussagen. Kein Mensch wird, lebt und handelt in Isolation. Kein Mensch weiß, wo er geboren wird, kein Mensch weiß allein, wo er mit seinem Leben hinwill. Zu leben heißt zu lernen. Jedes Lebewesen muss lernen, sich in seiner Geworfenheit zurechtzufinden.
Ups, ich bin ein Eichhörnchen. Wow, ich kann so weit springen, bin so flink, kann balancieren und mir merken, wo ich meine Haselnüsse versteckt habe. Mist, jetzt bin ich ein Nilpferd. Das mit dem Springen kann ich mir an den Nagel hängen. Ich habe echt kein Bock zu lernen, mit einem Nilpferdkörper zu leben, sagte das Nilpferd und ließ sich auf den Boden fallen. Mit dem Aufprallen der 1,5 Tonnen in grauem Ledermantel erbebte das ganze Erdreich im Umkreis von 50m. Aufgeschreckt schauen zwei Erdmännchenaugen hinter einem dürren Wachholderstrauch hervor. Ich wünschte, ich könnte mich so fallen lassen, dachte der Strauch. Stecke hier seit 10 Jahren im Boden fest und kann nicht mal lernen mich gegen dieses Erdmännchen und seine schlechten Anbaggerversuche zu wehren. Huch, ich bin wieder Mensch, welch Freiheit, welch Genuss, na gut über Bäume springen kann ich nicht, Photosynthese geht jetzt auch erstmal 13.000 Jahre nicht mehr. Was solls… Krass, was ich alles für Geräusche mit meinem Mund machen kann. Hörst du das? Genial oder, Mach du mal was. Gogg. Und schau dir erst unsere Hände an. So fein und doch kraftvoll. Ein Fest. Ein Funke. Ein Feuer. Sieh mal mit dem Stück Kohle kann ich was an den Felsen kritzeln. Was soll das sein? Ein Nilpferd auf dem ein Erdmännchen sitzt. Das gibt‘s doch gar nicht. Na und, ich kann es malen und dann gibt es das doch. Meinen Kopf drehen, Augen bewegen. Klappt auch. Hammer!
Was möchtest du mal werden Arthur? Na ja, in dieser steinigen Umgebung und in unserer kleinen homogenen Truppe bleibt mir jetzt nicht viel übrig außer Jäger und vielleicht Höhlenmaler. Aber wenn wir mal in richtigen Städten leben, mit ganz vielen Häusern und Menschen und Straßenbahnen und Geschäften und Schulen und Vereinen und Parteien und Sportgruppen und nur zwei Eltern und einen kleinen Bruder, dann würde ich wahrscheinlich das werden, was mir in diesem bunten, chaotischen Treiben am ehesten ein Gefühl von Heimat gibt. Vielleicht Fotograf oder Illustrator oder so. Und politisch? Hm, das kommt sehr darauf an, wo und mit wem ich aufwachse und welche Umgangssprachen ich lerne. Je nachdem fühle ich mich dann mit dem einen oder dem anderen Umgang wohler.
Meine Umgebung und ich, das ist so eine love-hate-relationship, die immer da sein wird. Am Anfang trifft meine Umgebung unglaublich viele Entscheidungen für mich. Mehr als ich überhaupt mitbekommen kann. Und dann merke ich irgendwann, dass diese Umgebung nichts Fixes ist und ich die Welt mit meinen Entscheidungen mitgestalten kann; entwickle dann so meinen Entscheidungsstil. In manchen Leben habe ich mich da schon sehr festgefahren, das gebe ich zu. Es ist aber auch gemein, wenn einen die anderen so behandeln, als könnte man gar nicht mehr anders entscheiden. Ja, das war schon verzwickt…
Einmal war ich Staatsoberhaupt von so einem riesigen Land und das war irgendwann nur noch eine hate-relationship. Also in dem Sinne, dass beide Seiten einfach total Bock hatten, diesen dämlichen Entscheidungsstil weiterzufahren, bei dem man am Ende natürlich nicht anders kann als… Na ja, das Gute ist, dass die existenzielle Philosophie der verwesentlichten Philosophie immer den Schneid abkaufen kann, weil letztere ja in erstere eingebettet ist. Sie hat halt diese Einbettung vergessen und macht sich dann daran, das Unkraut zu zupfen bis irgendwer kommt und sagt: Moment mal, wir können doch auch einfach anfangen, von dort drüben auf das Kraut zu schauen, dann sieht es schon ganz anders aus und wir können nen Gemüsegarten starten. Hier ich zeig‘s euch. Ihr müsst an diese Stelle kommen und ein bisschen in die Knie gehen… Das hat dann irgendwie geklappt mit dem gemeinsam in die Knie gehen und ein anderes Spiel anzufangen, war aber nicht leicht.
Ist es denn nie gut, Menschen zu verwesentlichen? Nein, es ist nie gut. Nicht, wenn die Beziehung eigentlich noch leben will. Dort wo eine Beziehung verwest, ist sie eine tote Beziehung. Es ist wie, wenn man zu einer Blume sagt: „Ich hab‘s erkannt, du bist wesentlich Mohnblume“, und aufhört sie zu gießen. Vielleicht ist das die Antwort auf unsere Frage. Die Menschen haben die Gärtner verbannt. Vielleicht war das der Beginn des Verwesungsprozesses. Die Gärtner wissen, dass jedes Lebewesen nicht wesentlich ist, und also gießen sie es, damit es leben kann. Schenken sich gegenseitig ehrliche Aufmerksamkeit und sind zufrieden damit.
Aber jetzt Mal zurück in die Zeit mit elektrischer Photosynthese und so. Hier gibt’s ja auch viel Unkraut, das aber nicht als Unkraut, sondern als goldene Gans betrachtet wird. Heißt das dann nicht, dass die Gärtner sich einfach gewandelt haben? So gesehen schon. Wir können ja alle Gärtner sein. Aber in dieser technisch zugemüllten und mit Beton zugewachsenen Welt wurden die Gärtner von den Ideenlern verdrängt. Der Garten ist jetzt nicht mehr die zartduftende Heckenrose neben den kräftigen Brombeeren, sondern die Idee von einem Garten. Und was ein Garten ist, das weiß doch jedes Kind. Das lernt man ja in der Schule. Ach ja die Schule, vielleicht ist sie die Antwort auf unsere Frage…
Jannik Howind, Witten 01.11.2022