Das Leben? Nicht im Griff
Inspiriert durch eine Schreibübung, die ich hier gefunden habe: schreibsuchti.de
#3 Sprich aus, was andere verschweigen: „Warum verstellen sich Menschen, sobald sie einen Artikel schreiben? Häufig ist es der Wunsch nach »seriösem Auftreten«. Dieses höfische Getue kannst du dir sparen. Sei menschlich, sei ehrlich und sei wie der Junge im Märchen »Des Königs neue Kleider«. Sprich es aus: »Der König ist nackt!«
Mal ehrlich, wer hat sein Leben schon im Griff? Plötzlich steht ein Freund aus Jugendtagen vor der Tür. Liebesfeuer entbrennt. Die Postbotin klingelt um 8:00. Aus dem Bett geworfen. Hass steigt auf. Am Freitag Demo. Es braucht noch Plakate. Am einzigen Copy-Shop in der Stadt steht: „Wir sind spontan im Urlaub.“ Die Wut kocht. Im Park fängt es plötzlich an zu regnen. Das Lieblingsbuch wird nass. Aufguss mit Brennnesseln. Im Café sitzt ein Philosophie Professor. Unterhaltung über Gott, Wissenschaft und die Welt. Die Zeit wie verflogen. Freude dann Ärger. Die Arbeit ruft. Das WLAN streikt. Der Tee längst kalt. Verzweiflung bahnt sich an. Das Leben? Nicht im Griff.
Mal ehrlich, wer will sein Leben schon im Griff haben? Liebe, Hass, Wut, Freude, Ärger, Verzweiflung. Gefühle, die zeigen, da ist etwas. Es gibt etwas zu spüren. Die Dinge, die passieren, sind nicht gleichgültig, sie gehen einen an. Ereignisse überkommen den Menschen. Überraschen ihn. Begegnungen lösen plötzlich etwas aus. Erinnerungen, Gedanken und damit auch Gefühle. Handlungsimpulse. Die Welt, ein einziger chaotischer Haufen. Wer dem entgehen will, nistet sich ein in kontrollierte Abläufe, in die Gewohnheit, die eigenen Sinne abzustumpfen. Andere werden auf dem Weg zur Arbeit nicht angeschaut. Das Smartphone als Allheilmittel einer Welt, die Angst hat, die Kontrolle zu verlieren. Der Blick auf den Bildschirm. Ich werde in Ruhe gelassen. Ich lasse die Welt in Ruhe. Die Unberechenbarkeit meiner Tage reduziert sich Stück für Stück. Einmal mehr zuhause bleiben, anstatt auszugehen. Einmal mehr Youtube schauen, anstatt draußen zu spazieren. Einmal mehr online Kleidung bestellen, anstatt Läden aufzusuchen. Einmal mehr… Bis kein Leben mehr übrig ist. Gott ist tot. Ich bin Gott, mein Leben kontrollierend, aber Gott ist immer schon tot. Der Mensch ist lebendig. Der Mensch ist vergänglich, sich wandelnd, unkontrollierbar. Alles zu wissen, alles zu sehen, alles zu können, alles zu bekommen ist eine Last. Wir müssen unser Leben nicht im Griff haben. Wir müssen die Welt nicht kontrollieren. Wir dürfen Teil dieses chaotischen Haufens sein, von ihm berührt werden und selbst Anstöße geben. Meine Aufgabe heißt nicht: Gott zu spielen. Meine Aufgabe heißt Menschsein. Mein Geschenk ist: zu leben.
Jannik Howind, Witten Juni 2022