Im grunde eins
Ich und Welt spannen ein Verhältnis auf. Kräfte wurden getrennt, die im grunde eins sind. Der Mittelpunkt, d. h. der Punkt der Begegnung dieser Kräfte ist die Seele (vgl. Schellings Begriff: „das lebendige Band“). Meine Seele ist die Vermittelung von mir zur Welt oder anders gesagt, das Verhältnis von mir zur Welt. Mein Geist aber ist das am Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. (Vgl. Kierkegaards Buch „Die Krankheit zum Tode“) So gesehen bin ich Ich und Welt. So gesehen bin ich Du, denn du bist Welt. Der Unterschied meines Geistes zu deinem Geist ist kein qualitativer, sondern ein örtlicher. Mein Geist ist nur mein unter der Bestimmung meines Ichs. Dein Geist ist nur dein unter der Bestimmung deines Ichs. Im grunde sind wir eins. Wir können jedoch nicht zusammenfallen, weil ich niemals unter deine Bestimmung gelangen kann. Wir sind einander ein Rätsel. (Vgl. Max Frisch Tagebuch 1946-1949) Denn wir sind beide Freiheit. (Das sich zu sich verhalten zu können, ist die Freiheit). Aber wir können uns nicht gegenseitig bestimmen. Wir können nicht der Bestimmung des Anderen habhaft werden und keiner kann der unseren Bestimmung habhaft werden. Oder anders gesagt: Ich kann niemals den Ort meiner Bestimmung verlassen. Ich kann dir all meine Freiheit schenken, indem ich mit meiner Aufmerksamkeit und Kraft nur noch dir folge, aber es bin immer noch ich, der dir all meine Freiheit schenkt. Es ist immer noch meine Bestimmung (Ort, Kraft, Zeit), die sich zu dir wendet, ohne Du werden zu können. Denn deine Bestimmung (Ort, Kraft, Zeit) ist deins. Und meine Bestimmung ist meins. Irgendwo dazwischen treffen wir uns. Beim bunten Abend im warmleuchtenden, gemütlichen Wohnzimmer, auf der Straße bei aufziehendem Wind, der Regen ankündigt, im Café auf ein Stück Kuchen, beim Festival, dass du organisiert hast. Du machst so viele tolle Dinge, und nur einen Bruchteil davon bekomme ich mit. Das ist das Schicksal davon, eine Bestimmung zu sein. So spielen wir und streben nach nichts anderem als zu spielen, die Spiele, die man sich nicht ausdenken kann, führen die Bewegungen aus, die sich nicht selbst bestimmen können, wechseln Worte, die sich wiederholen und dann doch nicht, denn dies ist unsere Bestimmung. Zu spielen und dadurch zu forschen, zu forschen und dadurch zu experimentieren, zu experimentieren und dadurch zu erschaffen, zu erschaffen und dadurch einander zu berühren, einander zu berühren und dadurch etwas zu fühlen, zu fühlen und dadurch zu spielen. Und so viele Momente, die dabei entstehen, werden verloren gehen wie Tränen im Regen, aber manche fallen in ein Glas mit Wasser und weil es Tränen in allen Farben des Regenbogens gibt, lösen sie sich nicht im Nichts auf, sondern zerfließen in Zeitlupe, wie Tinte. Ja, manche Tränen zerfließen wie farbige Tinte, so bleiben sie sichtbar und werden übersetzt und durch die Zeit gereicht, bis sie ganz aufgelöst sind und nur noch ein Hauch von Ahnung im Wasser übrig bleibt. Andere Tränen zerfließen wie Tinte und widerfahren das seltene Schicksal, dass die Umgebung des Wasserglases so kalt ist, dass sie eingefroren werden. Was aber ist das Glas mit Wasser anderes als das Gedächtnis? Und auch das Gedächtnis, im grunde eins, ist in zwei durch die Unterscheidung von Ich und Welt. So kann das Ich eine Träne bis an sein Lebensende in sich tragen und sie so lange in die Welt zu übersetzen versuchen und die Welt kann die Wärme und Farbe dieser Träne annehmen und sie weiter tragen. So reiht sich aneinander, greift sich auf und verliert sich, was im grunde eins ist.
Jannik Howind, Witten 2023