Gefahren für eine Demokratie

„Reminder. Ist die AFD eine Gefahr für die Demokratie?“ Dieser Betreff kommt heute als Benachrichtigung von Zeit Online zu mir. Kann eine Partei eine Gefahr für die Demokratie sein? Der Blick in die Geschichte beantwortet dies uneingeschränkt mit Ja, sodass Artikel 21 des Grundgesetzes verfasst wurde:

 

„(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.“

Im gleichen Sinne, Artikel 9 Abs. 2, der sich auf Vereine bezieht.

Entscheidend ist, dass wir uns vergegenwärtigen, was die freiheitliche demokratische Grundordnung meint und warum sie so schützenswert und verletzlich ist. Diese Vergegenwärtigung ist eine Wahrnehmungsaufgabe. Ganz entscheidend sind Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz. Artikel 3:

 

„(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Wenn bei einer Demonstration gegen bestimmte politische Gruppen wiederholt von der Polizei härter durchgegriffen wird als gegen andere, so ist die Gleichheit vor dem Gesetz und der Exekutive, die das Gesetz hütet, nicht verwirklicht. Es gilt kritisch genauer hinzuschauen, denn die Wahrnehmung verfeindeter Parteien, sei es auf der Straße, auf dem Fußballfeld oder im Haushalt, neigt dazu, die eigenen Benachteiligungen stärker zu empfinden als die der anderen und die Bevorzugungen der anderen stärker zu empfinden als die eigenen. Der Ruf nach Gleichberechtigung kann aber niemals durch solch eine Beobachtung abgetan werden. Mit aufmerksamem, urteilsaufschiebendem Blick gleichberechtigt auf die Sache zu schauen ist geboten. Dies ist eine Pflegeaufgabe einer Demokratie, so wie wir unseren Garten pflegen müssen, wenn wir wollen, dass er von Jahr zu Jahr erblüht. Nur geht es hier nicht um Wasser- oder Trimmpflege, sondern um Ereignis- und Geschichtspflege, denn, wenn bestimmte ungerechte Ereignisse sich wiederholen, kommt es zu Vertrauensverlust, zu Frustaufbau, zu eigenen Theorien- und Geschichtsbildungen. Plötzlich fragt man sich, lebt man überhaupt noch mit Menschen zusammen, denen auch an der eigenen Existenz und Freiheit und Verantwortungsfähigkeit gelegen ist? Plötzlich beginnen Gedanken, Gewalt gegen bestimmte Menschen als legitim zu betrachten.

Besinnen wir uns auf die Frage der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Wo hindert dich oder euch etwas daran, das Leben zu leben, das ihr gelebt haben wollt? Alle Antworten auf diese Frage, die von anderen Menschen erfordern, anders gesinnt zu sein, als sie gerade gesinnt sind oder anders zu handeln als sie gerade handeln, fallen heraus, es sei denn, es kann der direkte Zusammenhang aufgezeigt werden, wie andere Menschen sich mit ihrem Verhalten aktiv dagegen richten, dass du oder ihr das Leben leben könnt, das ihr gelebt haben wollt. Damit kommen wir zum Spannungsverhältnis von freiem Willen und Zwang bzw. gewaltvollem Druck.

Stellen wir es noch einmal anders dar. Jemand fragt mich, ob ich mit ihm Essen gehen will und dann am selben Tag noch jemand. Was in einem Moment begeistert ein freies Ja, bei mir auslösen kann, kann in Zeiten des Stresses das Fass zum Überlaufen bringen. Alles wird zu viel, selbst lieb gemeinte Einladungen verstärken ein Stress- und Druckgefühl. Der Punkt ist, dass kein Mensch isoliert lebt und auch nicht leben könnte. D. h., dass ein jeder immer ein Gefühl von Druck hat, das gegeben bestimmter Umstände zu einem Erleben von Unterdruck und Überdruck werden kann. Biologisch kann sich keine Einheit abgrenzen, wenn sie sich nicht von Innen gegen ein von außen drückendes Außen drückt. Ein Unterdruck im Leben meint nun, dass von außen kaum noch etwas drückt. Ich werde nahezu vollständig in Ruhe gelassen. Das kann, wenn der Zustand lange hält, Sinnkrisen auslösen. Aus jeglichen größeren Zusammenhängen und Träumen gerissen, wird die Frage größer, wozu das Ganze. Diese Entwicklung kann ins Pathologische abdriften, beschreibt aber erstmal einen Zustand, bei dem ich Zeit zur Verfügung habe, die ich in eine neue Richtung fließen lassen kann. Demgegenüber steht ein Zustand des Überdrucks, bei dem alles droht auseinanderzufallen, die Wohnung, soziale Beziehungen, Vorhaben auf der Arbeit, alles bekommt weniger Zeit, als es bräuchte, weitere Anfragen müssen mit klarem Nein abgewiesen werden. Wie auch immer man zum freien Willen steht, ein jeder Mensch hat eine Verantwortung mit seiner Zeit umzugehen, die nur er selbst beantworten kann. Die Entscheidungen, die er im Umgang mit seiner Zeit trifft, haben reale Konsequenzen. Und diese Entscheidungen sind frei, weil niemand von außen sagt, das musst du jetzt aber so oder so machen. Beide Zustände des Unterdrucks und des Überdrucks können Krisen auslösen, weil es keine Zeit mehr für die Frage oder durch fehlende Integration in das Leben mit anderen kein Gefühl mehr für die Frage gibt, was will ich eigentlich? Ein Gefühl bekommen für sich und die Zeit, die in der eigenen Macht steht, und für die Zeit, die nicht in der eigenen Macht steht, das ist wesentlich. Aber so wie die eigene Zeit für die anderen nicht unbeeinflussbar ist, sie können ja Druck auf mich ausüben, so ist die Zeit der anderen nicht unbeeinflussbar für mich, auch ich kann durch meine gezielte Aufmerksamkeit Druck ausüben. Dieses Wechselspiel von Druck in der Kommunikation ermöglicht überhaupt das Leben, andernfalls müssten wir uns ja völlig in Ruhe lassen und das würde das Leben schon rein fortpflanzungstechnisch ziemlich schnell beenden. Dieses Wechselspiel von Druck unterstellt sich und den anderen eine Kraft, dagegen halten zu können. Ein Ja anzubieten, ein Nein aufzubringen, beides braucht Kraft. Beides geschieht intuitiv aus Freiheit, weil es um die Verhandlung unserer eigenen Zeit geht. Die Unfreiheit beginnt dort, wo ich meine eigenen (zeitlichen) Grenzen oder die des anderen nicht beachte und letztlich breche.

 

Du kommst jetzt mit!

 

Er blieb nachts immer auf, in der Hoffnung, sie würde noch anrufen. Sie kannten sich vage, aber er war unsterblich in sie verliebt. Sie hatte bereits mehrfach Nein zu ihm gesagt, aber das Gefühl, ja der Wunsch war so stark, dass er diese Grenze nicht wahrnehmen konnte. So vernachlässigte er sein Leben in der Hoffnung auf ein anderes.

 

Die freiheitlich demokratische Grundordnung gerät dort in Gefahr, wo jemand oder eine Gruppe meint, besser für zwei oder für alle zu wissen, welche Zukunft für sie richtig ist, und wo jemand oder eine Gruppe beginnt, entsprechend zu handeln und zu behandeln. Damit wird gedanklich die Zeit des anderen bereits in die eigenen Pläne eingeflochten und der andere im eigenen Handeln nur noch als Mittel zum Zweck verwendet. Ein Unterschied liegt vor, wenn man gemeinsam aus freien Stücken einen Teil der Zukunft abgestimmt hat. Auch hier ist nichts in Stein gemeißelt, aber ich kann mit einer gemeinsamen Zukunft rechnen und wenn sich etwas verändert, lässt sich an die letzte gemeinsame Verabredung anschließen. Diese gemeinsamen Verabredungen sind ganz wichtig und sie sind es, die fehlen, wenn jemand oder eine Gruppe meint, besser für zwei oder für alle zu wissen, welche Zukunft für sie richtig ist.

Eine Diktatur rechnet mit der Heereskraft, mit der Wirtschaftskraft, mit der Widerstandskraft usw. der Bevölkerung, eine Demokratie rechnet immer und vor allem anderen mit den freien Willensbekundungen der Menschen. Immer. Die freiheitlich demokratische Grundordnung beginnt fortwährend in den Köpfen der Menschen mit der Voraussetzung, dass jeder verantwortlich für seine Zeit ist und am besten weiß, wofür er sie verwenden und wem er sein Vertrauen schenken will. Das bedeutet, dass sich die Formen immer wieder ändern können, die Form des Rentensystems, des Wirtschaftssystems, des Bildungssystems usw. Es gibt in einer Demokratie niemals den Punkt, an dem sich ein für alle Mal für eine Zukunft entschieden wurde. Die berüchtigte „Alternativlosigkeit“ gibt es nicht, weil die Menschen, die sich entschieden haben, gemeinsam durch freie Willensbekundungen und -vereinbarungen ihre Angelegenheiten zu regeln, immer erst Alternativen schaffen und schaffen müssen. Und alles, was von Menschen geschaffen wurde, kann auch von Menschen verändert werden.

 

Alle Entscheidungen, die wir treffen, sind Gesetzeserlasse über die Zeit, wenn sie konkret sind, oder es sind Gesetze über unsere Wahrnehmungseinstellungen, wenn sie ideell sind. Die Entscheidung, einmal im Monat ein öffentliches Treffen zum Gespräch über den Zustand der Demokratie im Bundestag abzuhalten, wäre ein konkretes Gesetz. Der Gleichheitsgrundsatz hingegen ist ein Ideal, dass sich an unsere Wahrnehmung und damit verknüpft an unser Denken, Entscheiden und Handeln richtet. Ideelle Gesetze werden immer wieder konkret, bloß lässt sich nicht genau vorhersagen, wann sie konkret werden. In dem Moment der Demonstration einer politischen Gruppe, die auf die Polizei trifft zum Beispiel, oder in Momenten auf dem Weg zum und im Gericht, oder auf der Straße, wenn ein Mensch gewaltvoll ausgegrenzt wird.

Gesetze können einen nicht einschränken oder unterstützen, es sei denn es gibt Menschen, die ihre Zeit und Macht dazu nutzen, die Einhaltung der Gesetze zu erwirken. Wird bei der Einhaltung der Gesetze mit zweierlei Maß gemessen, so schwächt das unsere demokratische Grundordnung. Es gilt immer wieder kritisch hinzuschauen. Dies ist Aufgabe einer Öffentlichkeit. Kommen wir zur Frage zurück, ob eine Partei die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden kann und wie?

Jenseits aller Beispiele lässt sich sofort sagen, dass eine Partei dies niemals allein kann, sondern dass es darauf ankommt, wie auf das Verhalten der Partei von Öffentlichkeit und rechtsstaatlichen Institutionen reagiert wird. Wenn einer Partei erlaubt wird, Grenzen des demokratischen Miteinanders zu überschreiten, dann ist das eine Gefahr. Diese Gefahr liegt dann aber genauso bei denjenigen, die der Partei dieses Verhalten erlauben.

Grenzüberschreitungen liegen aus Sicht der demokratischen Grundordnung auch vor, wenn eine oder mehrere Parteien, die sich zusammenschließen, die demokratischen Spielregeln zur Besetzung von Richtern, zur Wahl von Parteien und Abgeordneten usw. in eine Richtung hin verschieben, die eine Wiederwahl begünstigt und oder die Macht-Chancen, der ungeliebten Partei verringert. Auch hier gibt es uneindeutige Grenzen, unausgesprochene Grenzen des Miteinanders, die man einfach nie gebrochen hat.

Wir sehen, auch im Ringen der Parteien miteinander und der Beziehung der Parteien mit dem Volk einer demokratischen Gesellschaft haben wir es mit Druck zu tun. Parteien sind ihrem Wesen nach gebündelte Willensbekundungen und damit Druck auf die Gesellschaft. Druck ist erstmal die Voraussetzung und die Chance etwas ins Fließen zu bringen. Wenn eine Partei erstarkt, die nicht nur ihrer Spitze, sondern der größten Zahl ihrer Mitglieder nach nur ihre eigene Zeit, Zukunftsvorstellung und Freiheit in der Wahrnehmung hat, ist sie dennoch erst eine Gefahr für eine demokratische Gesellschaft, sobald sie beginnt, die anderen Parteien oder andere Bevölkerungsgruppen in ihren politischen Willensbekundungs- und Grundrechten aktiv einzuschränken. Menschengruppen sind dann eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, wenn sie wiederholt demokratische Prinzipien und Gesetze schief, nach zweierlei Maß, auslegen oder ignorieren und damit durchkommen. Wie soll eine Partei das aber tun, wenn sie nicht entweder eine eigene gewaltbereite Exekutive aufbaut oder die gewaltbereite Exekutive des Staates sie dabei unterstützt.[1] Damit diese Polizei sie als staatliche in ihren antidemokratischen Bestrebungen unterstützt und nicht als private bräuchte es dem Recht nach eine Abschaffung der Grundrechte des Grundgesetzes und des politischen Neutralitätsgebotes der Polizei. Der Praxis nach bräuchte es die Entscheidung der Menschen der gewaltbereiten Exekutive, also des Militärs und der Polizei, nach der Grundordnung der erstarkten Partei zu handeln. Bei dieser Entscheidung könnte ein Druck einer starken Öffentlichkeit, einer privaten gewaltbereiten Exekutive oder einer finanzstarken Gruppe ausschlaggebend sein. Wir kommen also nicht umhin immer wieder festzustellen, dass der Zustand der gewaltbereiten, das ist rein beschreibend und nicht wertend gemeint, gesetzesbehütenden Exekutive und der Öffentlichkeit sowie das Verhältnis von Menschen in staatlichen Positionen zu Menschen mit viel Besitz wesentliche Faktoren sind, wenn wir versuchen wollen zu beurteilen, wo Gefahren für eine Demokratie liegen. Der Zustand der richterlichen Gewalt und der gesetzgebenden Gewalt sind genauso entscheidende Faktoren. Wer überwacht den Überwacher und die Machthaber? Die Antwort kann nur, so denke ich, jeder Beliebige sein bzw. eine denkende, kritisch prüfende und nachvollziehende Öffentlichkeit. Die sogenannte vierte Gewalt.

Parteien, gerade neue Parteien sind immer auch Öffentlichkeiten, die auf das, was sie wahrnehmen, reagieren. Sie gehen in eine Verantwortung, die aus einem Frust heraus, weit über das Ziel hinausschießen kann. Dennoch sind sie weder dumm noch blind. Wenn wir Versuche der Verantwortungsübernahme und der Öffentlichkeitsbildung abstrafen, schwächen wir die Demokratie. Es gilt zumindest für berufliche Menschen der Öffentlichkeit, diese Versuche, von wo auch immer sie kommen, unparteilich aufzugreifen, zu verstehen und in ihrer kritischen, lösungsorientierten Qualität in Vereinbarung mit demokratischen Grundwerten und der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stärken. Gleichzeitig darf die Öffentlichkeitsbildung niemals Parteien, die schon immer einen Hang zur Gesinnung und zu Gesinnungszwang hatten, überlassen werden. Ich behaupte: Ohne eine überparteiliche Öffentlichkeit keine Demokratie. Der Appell, die Öffentlichkeitsbildungsversuche durch Parteien aufzugreifen, geht notwendigerweise an die überparteiliche Öffentlichkeit. Es bleibt die Frage, wie es um diese steht und wie diese möglich und pflegbar ist. Ich wünsche mir, dass die Zeit beim nächsten Mal diese Frage an all seine Newsletter-Abonnent:innen schickt.

 

 

[1] Es müsste an dieser Stelle vertieft über den Begriff und das Phänomen der Gewalt nachgedacht werden. Wo beginnt sie? Bereits mit Worten oder erst mit körperlich übergriffigen Taten. Möglich scheint mir der Gedanke, dass Gewaltbereitschaft und demzufolge Gewaltausübung dort vorliegen, wo Menschen nachhaltig eingeschüchtert werden. Diese Wahrnehmung lässt Gewalt bereits mit Worten und geäußerten Emotionen beginnen. Nach diesem Blick hängt das Phänomen der Gewalt nicht nur mit der Gewalt ausübenden Seite, sondern genauso mit der Gewalt empfangenen Seite und ihrer Widerstandskraft zusammen. Denn ist man höhere Widerstandskraft gegen kommunikative Gewalt gewöhnt, so können noch nicht einschüchternd gemeinte Äußerungen die andere Seite eingeschüchtert zurücklassen. Der Comedian Kaya Yanar greift das beispielsweise auf, wenn er darstellt, wie arabische Sprachen im Klang deutlich gewaltvoller scheinen, als beispielsweise die deutsche Sprache.