Politik der Alternativlosigkeit

Die letzten zwei Wochen, sowie eine Woche im Juni war ich in ostdeutschen Bundesländern (Thüringen, Sachsen, Brandenburg) auf der Straße im politischen Gespräch mit vor allem älteren Menschen. Mein Eindruck ist, dass eine Bezeichnung der „AfD“ als nationalsozialistische Partei verkürzt und zu undifferenziert ist. Genauso wie Bezeichnungen von links-grün versifft bloßer Ausdruck einer sich verrohenden, respektlosen und undifferenzierten Gesprächskultur sind. Das Wiedererstarken der AfD nach einer Abschwächung bzw. Stagnierung um 2019 bis 2021[1] lässt sich für mich mit drei ganz aktuellen Zeitphänomenen und einem sich durchziehendem Thema, die uns alle betreffen und den Umgang der etablierten Parteien mit diesen Zeitphänomenen, erklären. Corona, Migration, Ukraine-Russland und sich durchziehend der Strukturwandel im Bereich Energieversorgung und damit im Bereich der Wirtschaft als ganzer.

In all diesen Fällen leisten sich die großen Parteien ideologische Aussetzer, die zu zu starken, zu undifferenzierten oder schlicht zu grundgesetzlich zu schnellen oder an anderer Stelle zu zu langsamen Entscheidungen, Maßnahmen und ihren Konsequenzen führen.[2] Dabei ist es, denke ich, kein Zufall, dass eine über Parteigrenzen hinweg konsensuelle Politik der Alternativlosigkeit, wenn auch aus scheinbar etwas unterschiedlichen Gründen, erst Euro, dann vor allem Migration, Klimapolitik und Krieg, eine Partei mit dem Namen „Alternative für“ als Reaktion hervorruft.

Eine Politik der Alternativlosigkeit gibt den Begriff der Politik selbst auf, bei dem um Entscheidungen gerungen wird, die die Richtung in eine offene immer erst zu gestaltende Zukunft bahnen. Das spüren Menschen, sodass abwertend von Zirkus, Scheindemokratie, Theater usw. gesprochen wird. Von manchen werden gar größere Mächte im Hintergrund vermutet. Auf all das muss und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Der Kernpunkt ist, dass die Alternative für Deutschland selbst eine Politik der Alternativlosigkeit betreibt. In dem Fall sind sie es, die alternativlos sind, wenn aus unserem Land noch etwas werden soll. Dafür kapern sie zuerst einmal den Volksbegriff, wir sind das (richtige) Volk. Das sehen sicher nicht alle ihrer Wähler so, aber unbezweifelbar einige an ihrer Spitze, die durch hohe Zuspruchszahlen übermütig werden, und andere, die sich mit ihren Führungsfiguren identifizieren können. Menschen sind allerdings nicht dumm. Sie spüren, dass eine freie Demokratie eine Politik der zu verhandelnden Alternativen meint, und zwar grundsätzlich. Wenn bestimmte Maßnahmen als alternativlos oder bestimmte Themen und der Umgang der deutschen Bevölkerung damit nicht offen verhandelt werden, weil, wer sie verhandeln will, Gefahr läuft, als Putin-Versteher oder als Rassist bezeichnet und damit aus der politischen Gemeinschaft ausgegrenzt zu werden, dann stärkt das diejenigen, die einen Weg finden, diese Themen zu verhandeln. Abermals geht es im demokratischen Sinne gar nicht darum, direkt die richtige Lösung zur Hand zu haben, sondern erstmal darum, dass im Gespräch über den Umgang unterschiedliche Bedürfnisse gesehen werden, und nicht von vornherein alternativlos die Richtung klar ist, in die reagiert werden muss. Waffen in ein Kriegsgebiet zu schicken ist ein Dilemma. Wenn plötzlich gesagt wird, dass der Angriff auf die Ukraine ein Angriff auf uns alle ist, aber vorher die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wurde, sodass potentiell der NATO-Bündnisfall greift, dann ist diese Rhetorik für manche zurecht erschreckend und überrumpelnd.[3] Ich überlasse es den Lesenden, den Umgang mit den anderen Themen auf seine alternativlose Rhetorik zu überprüfen und weise nochmal diejenigen, die mich missverstehen wollen, darauf hin, dass hiermit keine Rechtfertigung für die alternativlosen Alternativen, die die AfD als Lösungen anbietet, erfolgt, sondern nur der Versuch, die AfD als Phänomen differenzierter und im Zusammenhang der deutschen Gesellschaft und Geschichte zu verstehen.

Dies führt zu weiteren Gedanken. Gerade im Osten Deutschlands, wo die politischen Routinen noch nicht so verkrustet sind, wo man den Kontrast unterschiedlicher Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensformen tatsächlich in seiner Biographie vereinen und spüren kann, werden ohne bewusstes Zutun aktuell gewisse Erinnerungen wach. Bespitzelung, Misstrauen, die Wortwahl wird plötzlich überhöht wichtig, du könntest auf dieser Seite stehen, wer sich nicht stark genug abgrenzt, wird verdächtigt, erfährt Ablehnung… Gleichzeitig spüren Menschen, dass regionale, soziale Bänder reißen, die in der Deutschen Demokratischen Republik von großer Wichtigkeit waren. Die ganze Welt zu retten, braucht Zeit und hat Konsequenzen für die regionale Welt, in der man verwurzelt ist. Wer nicht, seit er denken kann, in einem wachsenden Konkurrenz-Kapitalismus gelebt, sondern tatsächlich die Solidarität im Kleinen erfahren und geteilt hat, der ist sich dieser Tatsache mitnichten bewusster, als wer nur den die Menschen vereinzelnden und sich zunehmend globalisierenden Konkurrenz-Kapitalismus erlebt hat. Und zwar so stark, dass er diese Wahrnehmung auch an Nachfahren irgendwie weitergeben kann. So wäre meine These, warum auch viele jüngere die AfD wählen. Denn, wenn die AfD einen wichtigen Gedanken mit sich trägt, dann ist es wohl dieser, wir können nicht die ganze Welt retten, wir müssen auch darauf achten, wie es der Bevölkerung geht, die schon lange in Deutschland lebt und wie viel Kraft diese hat. Daraus folgt eine konservative Politik und eine starke Aufmerksamkeit auf Abgrenzung. Der Erhalt der eigenen Kräfte und die Fähigkeit der Abgrenzung sind essentiell, um das eigene Leben zu führen, um einen Haushalt zu führen, um eine gemeinsame Unternehmung umzusetzen, diese Werte sind an sich nichts Schlechtes. Die reaktionären, aus Sicht der gegenwärtigen Politik ins extreme Gegenteil gehenden Antworten der AfD, ihre Hetze gegen andere Parteien, Politiker:innen und Wähler:innen sowie gegen fremde Kulturen und Flüchtlinge, ihre symbolische Hyperreaktion falls jemand gendert – ich nenne das mal umgekehrte Symbolpolitik –, all das macht sie für mich nicht zu einer Alternative, sondern zu einer Fortführung der Politik der Alternativlosigkeit nur extrem in die andere Richtung, was symptomatische Themen angeht. Aktuell deutet für mich nichts darauf hin, dass sie sich konzentriert den Herausforderungen stellen werden, die der Kapitalismus und die sich zuspitzende Parteiendemokratie an uns stellen. Zumindest nicht in gebündelter Kraft. Ihre Kraft geht gegen gegen gegen. Zurück zurück zurück. Konservatives denken. Der Grundimpuls, in Zeiten der Beschleunigung, des politischen Machtmissbrauchs und der wirtschaftlichen und kulturintergrierenden und bewahrenden Überforderung, innehalten und auch Alternativen denken zu wollen, scheint mir wichtig. Aber eben genau dieses Ziel der Bildung politischer Öffentlichkeit verfehlt auch die AfD hochkant.

Ich mag mich mit all dem Gesagten irren und mit Gegenbeispielen zurechtgewiesen werden. Dass wir uns Zeit und Räume nehmen sollten, um herausfordernde Fragen jenseits von Alternativlosigkeit, also politisch, zu verhandeln, das kann ich entschieden sagen. Die Aufgabe von Menschen in der Politik und der Öffentlichkeit, diese Zeiten und Räume zu schaffen, wird in einer freien Demokratie niemals veralten. Eine Politik und eine Öffentlichkeit, die eine parteipolitische Politik der Alternativlosigkeit betreibt, wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Mit undifferenzierter Ausgrenzung und Abstempelung kommen wir in einer Demokratie nicht weiter und das gilt für alle!

[1] https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/.

[2] Ich denke erstens an die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen der Corona-Politik, die zum einen den Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip – Herausforderungen werden dort gelöst, wo die Betroffenheit liegt, und nur dann von einer höheren (staatlichen) Ebene angegangen, wenn die kleinere Ebene überfordert ist – nahezu ausgehebelt haben und zum anderen im Zuge einer unsachlichen Debatte erfolgt sind, bei der die Bevölkerung aus der jeweils anderen Sicht in abwertende Lager gespalten wurde bzw. kein gemeinsamer Gesprächsraum mit stark unterschiedlichen Wahrnehmungen gehalten werden konnte. Dieses parteipolitische Phänomen, dass sich gegen den Begriff der Politik selbst wendet, lässt sich zusammenfassen als die Not, auf der „richtigen Seite zu stehen“ und diejenigen, die durch Äußerungen oder Handlungen als auf der anderen Seite stehend identifiziert werden von der eigenen Seite zu überzeugen. Dieses Phänomen richtet sich gegen die Demokratie und den Begriff der Politik selbst, weil Politik als Entscheidungsfindung für gemeinsame Herausforderungen und Angelegenheiten nur dann geschieht, wenn unterschiedliche Wahrnehmungen auf eine Sache zugelassen und aus dieser Spannung heraus, Wege gesucht werden, denen alle Betroffenen oder zumindest die Mehrheit der Betroffenen zustimmen kann. Bei diesem Schritt ist wichtig, dass nahezu alle zur Einigung gekommen sind, dass eine baldige Entscheidung in Anbetracht der Zeit wichtiger ist, als weiteres Diskutieren, sodass auch die unterlegene Minderheit, das Ergebnis wird mittragen wollen.

Zweitens denke ich an Artikel 20a des Grundgesetzes, dessen Einhaltung den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bedeutet. Aufgrund der traditionellen Versorgung des Energiebedarfs der deutschen Bevölkerung aus nicht nachhaltigen Quellen, Kohle, Gas, Öl, oder aus Quellen, die ein geballtes riesiges Zerstörungspotential haben, Atomkraftwerke und die Ablagerung des Atommülls, folgt für Regierungen, die diese Herausforderung angehen wollen, die Förderung eines massiven Strukturwandels, der aus einer Wahrnehmung der Angst betrachtet Arbeitsplätze, Existenzen, Gewohnheiten und Lebensweisen bedroht. Für die einen können diese Entwicklungen nicht schnell genug gehen, für die anderen gehen sie zu schnell und für manche steht die Begründung dieser Richtung an sich noch infrage. Wichtig ist, dass das Wie der Veränderungen als verhandelbar und gemeinsam mit allen Betroffenen gestaltbar betrachtet wird. Ideologische Aussetzer, die eine bestimmte Weltsicht und daraus abgeleitet bestimmte Maßnahmen für unverhandelbar halten, gefährden diese politische und (hoffentlich nach besten Bemühungen durchgeführte) demokratische Prozesse.

[3] Dass das mit den Beistandserklärungen im Kriegsfalle gar nicht so einfach und eindeutig ist, zeigt der Sachstandsbericht des Bundestages vom 22.04.2024 bezüglich des Themas „Konfliktpartei im Ukrainekrieg und NATO“. https://www.bundestag.de/resource/