Ein Gedanke zur Erziehung von Menschen

Was würde passieren, wenn wir den Weg nicht mit dem Ziel gleichsetzen würden? Stellen Sie sich vor, Sie wollen Schreiben lernen oder denken Sie einfach an irgendetwas, das Sie gerade lernen wollen. Sie werden nun ein Bild davon vor Augen haben, wie die erfolgreiche Ausübung dessen, was Sie lernen wollen aussieht. Sie wird bestimmten Regeln in gelungener Weise folgen. Bleiben wir bei unserem Beispiel: Sie werden Groß- und Kleinschreibung, Rechtschreibung, Lesbarkeit usw. beherrschen. Sie werden erkannt haben, wo die Grenzen der Regelbefolgung liegen. Überlegen Sie kurz ohne Anspruch auf Vollständigkeit, was die Regeln sind bei dem, was Sie lernen wollen.

Die Einhaltung eines bestimmten Bündels von Regeln ist das Ziel einer jeden Lerntätigkeit. Aber! Diese Regeln sind abstrakte Ideen. Es gibt in der Erfahrung unendlich viele Wege, diese Regeln einzuhalten. Denken Sie einfach daran, dass jeder Mensch eine eigene Handschrift entwickelt oder wieder an ihr Beispiel und an die unterschiedlichen Menschen, die die gewünschte Fähigkeit gelungen ausüben. Alle diese Wege sind gleichwertig. Sobald wir die Idee von Richtig und Falsch in das Lernen einführen, verlieren wir den einzigartigen Menschen, der vor uns steht, aus den Augen. Wir sind dann als Lehrende keine Unterstützer mehr der Entfaltung ihres einzigartigen Ausdrucks bei dem Erlernen einer Fähigkeit. Wir werden in diesem Augenblick zu Erziehenden des Menschen hinzu einer Idee, die wir als „richtig“ erachten, ohne dass es einen triftigen Grund dazu gäbe, d. h. ohne, dass der oder die Lernende uns explizit danach fragt. Der Grund unser Lehren an einem „richtigen“ Weg auszurichten, ist häufig nur die eigene Erfahrung. Als wir die Tätigkeit lernten, hat man es uns so beigebracht. Es hat bei uns geklappt, also muss es der „richtige“ Weg sein. Oder wir haben irgendwo gelesen, was der „richtige“ Weg ist. Ganz schön willkürlich. Ein Freund, der einen anderen Lehrer hatte, sieht einen anderen „richtigen“ Weg vor seinem inneren Auge. Es ist nichts falsch daran, wenn man gefragt wird, seinen Weg als Antwort darzulegen. Eine andere Antwort wäre ehrlich gar nicht möglich. Aber es liegt ein großer Irrtum vor, ungefragt den eigenen Weg dem anderen Menschen vor einem – sei er nun sechs Jahre oder vierzig Jahre alt – aufzuzwingen. Dieser Lehrende verwehrt dem Menschen vor sich die Möglichkeit, einen eigenen Weg zu finden, der auch funktioniert. Einen eigenen Weg zu finden, braucht viel Vertrauen in die Welt. Man muss ins Blaue hinein bereit sein, Erfahrungen zu machen und daraus zu lernen. Kinder haben dieses Vertrauen. Ihre Angst vor der Welt ist höchstens ein kleines Kribbeln im linken Zeh, das sie ob der Vielfalt an Eindrücken, an Dingen, die sie anfassen, lecken, rollen, schubsen ganz vergessen. Kinder sind Autodidakten. Sie können eigene Wege finden, Fähigkeiten zu erlernen, die von der sie umgebenden Kultur als wertvoll erachtet werden. Und sie werden ganz schön viel Spaß dabei haben. Nur erwachsene Menschen, die sich lange nicht mehr zugetraut haben, eigenständig etwas zu lernen, sondern über die Jahre des Festsitzens in einem Bildungssystem antrainiert haben, auf Signale und Hinweise von außen zu achten, um etwas „richtig“ zu machen, haben dieses Vertrauen in sich nicht mehr. Sie haben über die Jahre den festen Glauben daran entwickelt, dass es „bessere“ und „schlechtere“ Wege gäbe, etwas zu lernen. Sie haben gelernt, dass man scheitern wird, wenn man einen schlechten Weg wählt. Oder dass man etwas nur dann gelernt hat, wenn man einen offiziell anerkannten Weg gegangen ist und bestätigt bekommen hat. Diese Angst vor dem Scheitern geben sie fortan an die Menschen, denen sie etwas beibringen sollen, weiter. Ständig wollen sie sicher sein, dass die Lernenden auf dem „richtigen“ Weg sind. Es ist ihre Angst, die sie dazu führt, ihren Weg den Lernenden aufzuzwingen. Sie wollen nicht für das Scheitern der Lernenden verantwortlich sein. Diese Dynamiken wären selbst dann möglich, wenn wir sie nicht institutionalisiert hätten. Unglücklicherweise haben wir das. Irgendein Abschluss ist in Deutschland i.d.R. nicht die Aussage, dass es einem gelungen ist, eine Fähigkeit zu lernen, sondern die Aussage, dass es einem gelungen ist, einen bestimmten vorgegebenen Weg zu dieser Fähigkeit gehen. Ein Abschluss ist mindestens auch die Aussage, dass wir Gehorsam gelernt haben.

Genau genommen haben wir hingegen dann etwas gelernt, wenn wir in der Erfahrung die Regeln der entsprechenden Tätigkeit erfolgreich befolgen können. Und erfolgreich heißt, dass die anderen Menschen in dieser Situation, die auch ein Verständnis dieser Tätigkeit besitzen, zu dem Urteil kommen, mit uns über diese Tätigkeit interagieren zu können. Es ist ihre Akzeptanz unserer handschriftlichen Schriften, es ist ihre Akzeptanz unseres Musikspiels, es ist ihre Akzeptanz unserer Kochkunst, die der Lernenden signalisiert, dass sie eine Fähigkeit gelernt hat. Jeder Mensch sieht die Fähigkeit differenziert komplex und so ist die Lernende solange nicht am Ende, wie es einen Menschen gibt, der sie noch nicht als am Ende des Lernweges angekommen akzeptiert. Dieser Mensch kann die Lernende selbst sein. Es gibt dann eventuell kein Ende. Die Wege dieser Menschen werden in die Geschichte eingehen, die Regeln der ursprünglich erlernten Fähigkeit sind dann nur noch die Stützen für viel Größeres, aber das nur am Rande. Es bleibt jedem selbst überlassen, wie weit er oder sie auf dem Lernweg einer Fähigkeit gehen möchte. Aber: Bei großen Meistern gilt, was schon beim Kind gelten sollte: „Misch dich nicht ein!“

(Inspiriert von Keith Johnstone’s Kapitel „Ich bin Lehrer“ in seinem Werk „Theater und Improvisation“ (1997))

Jannik Howind, Witten Juli 2022

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert