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Von Menschen und Rollen

Wahrheit und Pflicht. Können und Müssen.

Die menschliche Begegnung ist die freieste Begegnung. Die, wo alles möglich ist. Freitagabend an der Strandbar. Das neue, unbekannte und doch anziehende Gesicht. Ein kurzes Lächeln über den Sand und die anderen Gäste hinweg. Der scheue Blick zur Seite und dann doch wieder zurück. Plötzlich im Gespräch. Alle Zellen des Körpers wach. Gespannte Aufregung. An diesem Abend könnte alles passieren. Wir könnten gemeinsam ausbrechen aus der Stadt, irgendwo hinfahren, Nacktbaden in der Nacht oder die reservierte Stimmung der Bar in eine wilde Karaoke-Night verwandeln. Die Bereitschaft, Neues zu wagen, durchströmt unsere Körper, wie ein reißender Fluss.

Damit etwas entsteht, müssen wir uns beschränken. Drücke ich alle Töne gleichzeitig, entsteht keine Melodie. Bin ich gezwungen auf alle Signale zugleich zu reagieren, entsteht keine Produktivität. Eine Rolle ist etwas Bestimmtes. Sie hat bestimmte Aufgaben und sie hat bestimmte Aufgaben nicht. Der Bäcker wird nicht die Menschen mit Brotwaren versorgen können, wenn er mit jedem Kunden eine systemische Therapiesitzung anfängt.

Die CEO wird ihr Unternehmen nicht führen können, wenn sie sich nur darum kümmert, dass alle Mitarbeitenden gut mit Essen versorgt sind. Für Rollen gibt es ein Richtig und Falsch. Das sind die Grenzen der Rolle, d. h. die Handlungen, die die Rolle auflösen würden. Dann gilt es. Entweder werden die Rolle und die Umwelt der Rolle angepasst[1]: Der Bäcker eröffnet einen neuen Betrieb, die therapeutische Bäckerei. Abwechselnd wird nach Kaufwunsch und nach persönlichen Unterstützungsanliegen gefragt. Es gibt auch das therapeutische Frühstück. Oder der Mensch passt sich der Rolle an. Der Bäcker unterlässt die therapeutischen Kundengespräche. Als Drittes bleibt noch die Trennung von dem Menschen und seiner Rolle. Der Bäcker wird gefeuert.

Welche Rollen es in der Gesellschaft gibt, entscheiden wir. Nicht absolut frei. Die geschaffenen physischen Umgebungen und historisch in den Menschen gewachsenen Vorstellungen, darüber, wie die Dinge zu sein haben und was wichtig ist, ermöglichen und verhindern das Entstehen bestimmter Rollen an einem Ort. Aber diese physischen Umgebungen und sozialen Wertvorstellungen und Gesetze sind selbst ständigem Wandel unterworfen. Entweder sie festigen sich oder sie verändern sich wieder. In jedem Augenblick entscheiden wir darüber. Und wir entscheiden, weil selbst ein Gebilde wie eine Gesellschaft von Menschen aus der absoluten Freiheit heraus entsteht. Ich behaupte nicht, dass sie diesen Moment der absoluten Freiheit oft oder jemals erlebt hat, aber er schlummert hinter all den täglichen Interaktionen der Mitglieder der Gesellschaft, genauso wie der Moment des „alles ist möglich“ am Freitagabend. Das solch ein Moment, der nur selten zwischen zwei Menschen auftaucht, bei mehreren Millionen Menschen, die sich in der Situation vorfinden, sich eine Gesellschaft zu nennen, selten oder noch nie aufgetaucht ist, liegt auf der Hand. Aber wir müssen seine Möglichkeit mitdenken. Und weil es sie gibt, können wir von Entscheidung sprechen.

Die menschliche Begegnung ist die freieste Begegnung, weil es bei ihr kein Richtig und Falsch gibt. Alles ist möglich. Es ist ein Moment des Entdeckens. Nach Wahrheit streben, weil wir es können. Das, was passiert, ist die Wahrheit. Wir sind. Kein Ausführen irgendeines Planes, den wir beide verstehen können. Sondern das Ermöglichen von etwas Drittem. Wir sind dann beide Teile von etwas Größerem. Keiner kontrolliert einseitig die Situation. Ein dritter Wille, eine Wahrheit, die wir beide nicht erfassen können, setzt sich durch; aber nur, weil wir es ermöglicht haben, durch unseren Willen, durch unser Können. Es kommt zu einer neuen Erfahrung. Wir lernen etwas über uns. Wir verändern uns.

Wer nicht versteht, der muss. Wer versteht, der kann.

Rollen sind mit bestimmten Aufgaben verknüpft. Diese Aufgaben sind die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse, die an sie gerichtet sind und die Nicht-Erfüllung bestimmter Bedürfnisse, die nicht an sie gerichtet sind. Hunger ist ein Bedürfnis. Nudeln zu essen nicht. Oder: Nudeln zu essen ist ein Bedürfnis. Spaghetti Bolognese zu kochen nicht. Es gibt Bedürfnisse und es gibt relativ dazu Wege, diese zu erfüllen.[2] Bedürfnisse und ihre Erfüllungsstrategien sind von einem anderen logischen Typ. Bedürfnisse sind unbestimmt. Sie sind nur der Grund, sich auf ein Bestimmtes zu richten. Auf Spaghetti mit Tomatensoße zum Beispiel. Ein Bestimmtes ist hier etwas, von dem ein klarer Plan bzw. ein Verständnis vorliegt, wie es realisiert wird.

Zwischen Bedürfnis und Erfüllungsstrategie liegt ein Spielraum. Dieser Spielraum ist Kreativität. Er ist die Möglichkeit von etwas Neuem, von Lernen, von Erfahrung, von Freiheit.

Wer Bedürfnis und Erfüllungsstrategie gleichsetzt, dem geht dieser Spielraum abhanden. Ein Signal wird aufgenommen, das Bedürfnis erkannt und die Erfüllungsstrategie angewandt. Berufung eines Automaten. Ein Mensch ist hier überflüssig. Wer eine Rolle nicht versteht, der setzt Aufgaben mit bestimmten Handlungen, also Strategien, sie zu erfüllen, gleich. Dieser Mensch muss. Er muss, ob er will oder nicht. Er muss immer Lust haben, die Aufgabe zu erfüllen und weil er sie nicht immer hat, muss er Wege finden, sich zu motivieren. Oder seine Vorgesetzten müssen das tun. Belohnung und Strafe.

Wer aber die Aufgabe versteht, der kann. Er versteht die Grenzen der Rolle und der Aufgabe und er kann darin die Strategie wählen, die er für richtig empfindet und sie ändern, wenn er es nicht mehr tut. D. h. er kann Wege finden, die Aufgabe zu erfüllen, die ihm persönlich Spaß machen, weil die Belohnung im eigenen Lernen und der eigenen Entwicklung liegt, die er so gleichzeitig fördert. Dieser Mensch ist Gestalter der Rolle. Er muss nicht, er kann.

Jeder Anfang ist schwer. Wir lernen in der Regel über das Sehen, Hören usw., also über die Nachahmung. Aufgaben mit dem ersten Erfüllungsweg, den wir sehen, gleichzusetzen, passiert schnell. Töchter werden wie ihre Mütter, wenn es um die Erziehung der Kinder geht. Schüler wie ihre Lehrer und Auszubildende wie ihre Vorgesetzten. Das Denken kann hier Abhilfe schaffen. Die Begegnung mit Menschen aus anderen, vergleichbaren Kulturkreisen auch. Wer denkt, begreift, dass eine Aufgabe auch anders erfüllt werden kann, und macht sich auf die Suche. Wer Menschen sieht, die die gleiche Aufgabe anders und trotzdem erfolgreich angehen, der begreift dies ebenfalls. Er kann sich nun auf die Suche machen, den oder die Erfüllungswege zu entdecken, die ihm entsprechen.

[1] Es geht nur zusammen.

[2] Marshall B. Rosenberg spricht von Bedürfnissen und Erfüllungsstrategien.

Jannik Howind, Berlin 22.07.2021

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