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Warum die Leistungsgesellschaft vergessen musste, was das Wort „Kunst“ bedeutet

Inspiriert durch ein Gespräch mit einer Freundin vor einer Bar in einer kühlen Dezembernacht, in der im richtigen Moment ein Fahrrad vorbeifuhr.

Wir leben in einer „kunstlosen“ Gesellschaft; einer Gesellschaft, die die Kunst vergessen hat. Ich will mich erklären. Natürlich „wissen“ wir noch, was Kunst bedeutet, dafür reicht ja ein Blick in den Duden. So kann „Kunst“ das Können an sich auf einem bestimmten Gebiet meinen oder ein einzelnes Werk bis hin zur Gesamtheit der Werke aller Künstler.[1] Im Wortursprung war von der zweiten Bedeutung noch nichts bekannt.[2] Sie kam erst später dazu. Zur Frage, wann genau und in welchem Ausmaß Menschen in Deutschland zunehmend bei dem Wort „Kunst“ an Werke und weniger an das Können bzw. an die schaffende Tätigkeit gedacht haben, lässt sich anhand der Zitate von deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts vermuten, dass diese Wandlung irgendwann im 19. oder 20. Jahrhundert stattgefunden haben muss. Eine Zeit, die mit der zunehmenden Industrialisierung und dem Erstarken des Kapitalismus allgemein großen Wandlungen unterworfen war. Ich denke, dass beide Wandlungen nicht zufällig zur selben Zeit stattgefunden haben, sondern miteinander zu tun haben.

Um mich zu erklären, muss ich als erstes die Unterscheidung von „Kunst“ und „Kunstwerk“ einführen. „Kunst“ darf nicht die Tätigkeit und das Ergebnis der Tätigkeit zugleich meinen. Das ist gefährlich. In der Tat müssen beide Begriffe aufs Schärfste unterschieden werden. Jedes Mal, wenn wir handeln – und damit sei erstmal nur irgendeine Tätigkeit gemeint, die physisch für andere wahrnehmbar einen Unterschied macht -, dann können wir ein Ergebnis dieses Handelns feststellen, wenn wir wollen. Ich laufe im Sand und hinterlasse Spuren. Ich rede mit Menschen, wahllos, oder aber mit der Absicht eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Das Können der Rede, das, was wir als Rhetorik kennen, mag sich objektiv nur an den erreichten Wirkungen feststellen lassen, z. B. an dem gebannten Lauschen der Zuhörer:innen oder abgefragten Feedback nach einer Rede, es hat aber nichts mit diesen Wirkungen zu tun. Das Können der Rede ist das Können im Moment, in der je neu auftauchenden Gegenwart auf bestimmte Arten und Weisen handeln zu können. Einer Art und Weise, die gar nicht an das Ergebnis denken kann, weil sie so damit beschäftigt ist, im Moment die richtigen Impulse aufzunehmen und selbst Impulse zu setzen. Eine großartige Pianistin, die ein Stück von Chopin aufführt, kann gar nicht an das Ergebnis denken, während sie spielt. Was soll dieses Ergebnis für sie sein? Ja, sie hat das Stück gelernt und ist nicht das Stück das Ergebnis? Was ist der Unterschied zwischen ihr und einem Plattenspieler? Die eine ist eine Künstlerin, das andere ein komplexes Stück Metall. Während der Plattenspieler das Stück immer nur auf eine und dieselbe Art und Weise abspielen kann, kann die Pianistin das Stück auf viele verschiedene, aber bestimmte Arten und Weisen spielen. Im Moment des Auftritts die Art und Weise zu finden, die sie selbst das Stück leben lässt und das Publikum berührt und begeistert, das ist die Kunst. Teil dieser Kunst ist ein ausgereiftes Bewusstsein des eigenen Körpers und ein weiterer Teil ist die Fähigkeit, auf das Instrument zu hören, mit dem man spielt. In meinem Leben sind mir noch keine zwei Klaviere begegnet, die genau gleich auf mein Spiel reagiert haben.

Wird das Spiel der Pianistin aufgenommen und nachher auf Spotify geteilt, dann wird keine Kunst, sondern das Kunstwerk geteilt. Die Kunst ist nicht das, was übrigbleibt, sondern die Voraussetzung dafür, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln und diese selbst auch insoweit zu kennen, als man gezielt dieses Können ausüben kann. Z. B. Fahrradfahren. Ja, streng genommen ist Fahrradfahren eine Kunst, genauso wie die Malerei (oder die Politik, aber mehr dazu ein anderes Mal). Es gibt eine Vielzahl von Künsten und es gibt Künste, die uns so geläufig sind, dass sie uns nicht mal auffallen. Aber vielleicht fallen sie uns auch nicht mehr auf, weil sie gar nicht mehr als solche wertgeschätzt werden. Ich fahre Fahrrad, um irgendwo anzukommen, ein Mann übt Schlagzeug, um einmal erfolgreich in einer Band auf Welttournee zu gehen, eine Frau schreibt, um den aufgetragenen Bericht rechtzeitig fertig zu bekommen. Ein „Künstler“ malt, um Bilder zu verkaufen und ein Fußballer spielt Fußball, um Turniere zu gewinnen. In Anbetracht dieser Beispiele, liegt der Ausspruch: „Ökonomisierung der Kunst“ auf der Zunge. Aber dieser Gedanke ist genauso gefährlich, wie die „Kunst“ und das „Kunstwerk“ nicht mehr zu unterscheiden.

Der griechische Philosoph Aristoteles unterschied die Begriffe „Ökonomik“ und „Chremastitik“, mit ersterer meinte er die Kunst, einen Haushalt zu führen, mit zweiterer die Kunst, Reichtum anzuhäufen. Unsere heutige Wirtschaftsweise ähnelt eher dem, was Aristoteles Chrematistik bezeichnete. Überall schauen wir auf die Zahlen und versuchen Zahlen zu erreichen, die bestimmten, selbst gesetzten Normen nahe kommen. Seien es nun die möglichst vielen Einsen auf dem Zeugnis, das BIP, publizierte wissenschaftliche Artikel, die Follower auf Instagram, die verkauften Produkte oder der Gewinn im Unternehmen. Handeln, das auf Zahlen schaut, ist keine Kunst! Ein Computer kann deutlich besser auf Zahlen schauen als Menschen, wenn er die entsprechenden Daten und Algorithmen gefüttert bekommt. Mit Zahlen, z. B. als Hilfsmittel bei der Kunst des Haushaltens zu hantieren, das ist wiederum eine Kunst. Die reine Anwendung und Überprüfung ist es nicht!

Aber ich schweife ab, der Gedanke, von einer Ökonomisierung der Kunst zu sprechen, ist deshalb gefährlich, weil er die bereits stattgefundene „Ökonomisierung“ des ökonomischen Handelns und unseres Verständnisses davon nicht reflektiert! Wir müssen aufdecken, was wir eigentlich mit dem Ausspruch „Ökonomisierung der Kunst“ sagen wollen. Es ist der Gedanke, dass überall, wo Kunst stattfindet, nicht auf die Kunst, sondern auf das möglicherweise vorhandene „Kunstwerk“, nicht auf das Können und die Schönheit, die in seiner Ausübung selbst schon liegt, sondern auf das Ergebnis und die Sensation, geschaut wird. Die anfangs angedeutete Wandlung in der Bedeutung des Wortes Kunst, geht damit einher, dass die Kunst als Fähigkeit, die sich nur im Moment zeigen kann, abgewertet und das Ergebnis, das immer nur durch eine Abstraktion von der Gegenwart gefasst werden kann, aufgewertet wurde. Die gegenwärtige Tätigkeit, die Kunst, das eigentlich Primäre wird sekundär und das Kunstwerk, das eigentlich Sekundäre, wird primär. Aber nicht nur das, auch das Kunstwerk selbst wird sekundär im Vergleich zur Idee des Kunstwerks. Der Name des Kunstwerks ist nicht das Kunstwerk selbst. Beispielsweise existiert das bildhafte Kunstwerk immer noch in einem Museum und kann physisch wahrgenommen werden. Gleichzeitig existiert eine Vorstellung des Kunstwerks, die oft mit einem bestimmten ökonomischen, historischen, sensationellen Wert verknüpft ist. Letztlich sind es diese Vorstellungen, auf die wir schauen, nicht auf das Kunstwerk und schon gar nicht auf die Kunst, die ganz am Anfang stand.

Die Spur zur theoretischen Erklärung dieses Phänomens führt über die Frage, wie sich Kunst (verstanden als Können oder als real existierendes Kunstwerk) vergleichen lässt? Kunst als etwas, das sich nur im Moment zeigen kann, nur im Moment des auf eine bestimmte Art und Weise handelnden Menschen, lässt sich nicht vergleichen. Die Gegenwart der Kunst kommt genauso schnell, wie sie vergeht. Wir können nur vergleichen, was sich zwischen Menschen festhalten lässt. Und das sind letztlich bestimmte Zeichen, auf deren Bedeutung wir uns einigen. Ein bildhaftes Kunstwerk, z. B. ein Bild von Monet, wird zwar zwischen Menschen festgehalten, aber wir müssten uns noch auf eine Bedeutung des Kunstwerks einigen. Wer vergleichen will, muss Kriterien haben. Wer vergleichen will, muss auf die Ergebnisse der Anwendung dieser Kriterien schauen. Wer vergleichen will, schaut auf Leistungen. Leistung definiert als ein vergleichbares Ergebnis von Handlungen. Aber warum sollte ich vergleichen wollen?

Zum Beispiel, um besser zu werden, um mich gegenüber anderen positiv abzuheben oder um Dinge zu sortieren. Die deutsche Gesellschaft, deren oberstes Ziel im Jahr 2022 in 2% Wachstum des BIP pro Jahr und der Vollbeschäftigung liegt, hat die Vorstellung, dass sich bessere und schlechtere Zustände der Gesellschaft eindeutig bestimmen lassen, dass es „besser“ und „schlechter“ objektiv bestimmbar gibt. Und was für die Gesellschaft gilt, gilt auch für die individuellen Menschen in der Gesellschaft. Auch hier herrscht die Vorstellung, dass es objektiv bestimmbar „bessere“ und „schlechtere“ Karrieren, „glücklichere“ und „unglücklichere“, „erfolgreiche“ und „weniger erfolgreiche“ Menschen gibt. Wer diese Vorstellungen für sich übernimmt, sieht sich vor die Frage gestellt, in jedem Moment herauszufinden, was angesichts der Norm, die „erfolgreich“ und „nicht erfolgreich“, „beliebt“ und „nicht beliebt“ in der Gesellschaft selektiert, die richtige Art und Weise, zu handeln, ist. Dieser Mensch versucht das zu tun, was wahrscheinlich von anderen als gute Leistung bewertet werden wird. Um das zu tun, muss er sich an Vergangenem orientieren; was war bereits erfolgreich? Dabei kommt ihm in die Quere, das Menschen sich immer wieder von ganz neuen Handlungen berühren und begeistern lassen. Dieser Mensch schaut auf Sachen, die sich festhalten lassen, bestimmte Sätze, die noch in seinen Ohren klingen, bestimmte Bilder und Vorstellungen, die er mit Erfolg verbindet. Was dieser Mensch damit gleichzeitig nicht tun kann, ist, im Moment auf die Dinge, die sich um ihn herum und in ihm bewegen, zu schauen. Er kann nicht im Moment Impulse aufnehmen und spontan eigene setzen, wenn er mit all diesen Inhalten und Vorstellungen beschäftigt ist. Kunst und eine Orientierung an Leistung schließen sich aus. Für das eine muss ich mich ganz auf den Moment, meinen Körper und die Wahrnehmung meiner Umgebung einlassen, für das andere muss ich die richtigen Vorstellungen finden und mich selbst und meine Umgebung analysieren, um zu den „richtigen“ Ergebnissen zu kommen. Beides kann nicht gleichzeitig in einem Menschen in einem Moment stattfinden.

Weil wir uns antrainiert haben, auf Leistungen zu schauen, mussten wir vergessen, was Kunst ist.

[1] Kunst ist: „1. a) schöpferisches Gestalten aus den verschiedensten Materialien oder mit den Mitteln der Sprache, der Töne in Auseinandersetzung mit Natur und Welt, b) einzelnes Werk, Gesamtheit der Werke eines Künstlers, einer Epoche o. Ä.; künstlerisches Schaffen, 2. das Können, besonderes Geschick, [erworbene] Fertigkeit auf einem bestimmten Gebiet“

[2] https://www.wortbedeutung.info/Kunst/ ; schon Herder schrieb in seinem Werk „Kalligone. Von Kunst und Kunstrichterei“: „Kunst kommt von Können.“

Jannik Howind, Witten 11.12.2021

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