Bericht Demokratieworkshop 03.06.2024
Seit März 2024 bin ich teil des Wo-Hin Projekts vom Omnibus für direkte Demokratie. Bei dem Projekt geht es darum, direkte Demokratie für Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse erlebbar zu machen. https://www.omnibus.org/wo-hin Folgende erste Workshop-Erfahrung von mir bezieht sich auf einen Schulbesuch in Thüringen.
Workshopgebende: Leoni, Jannik
Es ist kurz vor 8:00. Ein paar Schüler:innen stehen schon vor der abgeschlossenen Tür des Klassenzimmers. Die Lehrerin schließt uns auf und verschwindet nochmal. Wir richten uns ein, beseitigen den schweren Lehrertisch, schreiben die zentrale Frage zur Besinnung auf den eigenen Veränderungswillen auf die Innenseite der klassisch grünen Tafel, wir legen Marker und Kreppband bereit für die Namensschilder. Nach und nach tröpfeln weitere Schüler:innen ein, die uns höflich „Hallo“ oder „Hi“ sagen und die wir zurück grüßen. Wie wir angekündigt wurden, frage ich diejenigen, die es sich bereits in einer Ecke des etwa 30m2 quadratischen Raumes gemütlich machen. Dass es um Demokratie geht und ihr nett seid. Ich nicke. Wir geben Kreppband und Stift für die Schilder herum, fragen, wann die großen Pausen sind und wie sie es mit Smartphones machen. Striktes Verbot während des Unterrichts, ergreift die Lehrerin das Wort, die sich wohl durch die Regelfrage besonders angesprochen fühlt, obwohl ich in Richtung eines Schülers geschaut hatte.
Um 8:10 fehlen zwar noch zwei aber wir fangen an. Ob das „Du“ ok sei für alle, fragt Leoni. Es gibt keinen Widerspruch und Nicken. In zwei, drei Sätzen stellen wir uns vor, wer wir sind, was der Omnibus ist und warum wir jetzt diesen Workshop geben. Dann Umbau zum Stuhlkreis, weil wir von allen hören wollen. Leichtes murren aus der Jungsecke, aber letztlich helfen alle und wir können starten. Drei Fragen werden im Paket reihum gegeben; ich beginne, sodass Leoni die letzte ist: „Wie heißt du? Wie geht es dir gerade? Bei Demokratie denke ich an … ? Aspekte von Mitbestimmung, Wahlen, Freiheit, Gleichheit, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit werden genannt. Allen geht es „gut“. Anschließend stellen wir das Workshop-Vorhaben detaillierter vor: Es geht darum, Demokratie als Prozess kennenzulernen und sich auf ein Thema zu einigen, zu dem konkrete Veränderungsprojekte entwickelt werden sollen. Es gibt keine Nachfragen.
Die Lehrerin hat übrigens beim Check-In mitgemacht und nimmt vorerst beobachtend und zuhörend teil. Die Stühle beiseite gefegt fangen wir zum weiteren Kennenlernen mit Aufstellungen im Raum an. Einzelnen Ecken oder Seiten des Raumes wird je nach Frage ein bestimmter Sinn gegeben. Die körperliche Positionierung im Raum stellt die Antwort dar. Nach zwei Freizeitfragen wird es politischer. „Informierst du dich politisch?“ von, „Ne, gar keinen Bock!“ bis „stündlich“, wobei wir im Anschluss nachhorchen, wie sie sich informieren. Freunde und Familie aber auch soziale Medien wie TikTok werden genannt.
Bei der Frage, „Bist du politisch aktiv?“ drängen sich alle, wie tendenziell von mir bei einer 9. Klasse erwartet, auf die verneinende Seite, wobei dann doch einer vorgeschickt wird, der sich als der Klassensprecher entpuppt. Die Frage, „Hast du das Gefühl, in deinem Umfeld etwas bewegen zu können?“ ließ hingegen ein differenzierteres Bild entstehen.
Insgesamt ist es etwas unkonzentriert, durch die sich mehr oder weniger zufällig bildenden Freundesgruppen entsteht Getuschel, nicht alle bekommen alles mit, manche verstecken sich hinter den anderen. Als einmal keine Antwort aus einer Ecke kommt, interveniert die Lehrerin das erste Mal und nimmt die Jungsbande nacheinander rigoros dran.
Nach den Aufstellungen beginnen wir mit Teil 2: Was bewegt dich? Ich gebe eine kurze Überleitung – gemeinsame Willensbildung in einem Bereich, in dem man etwas verändern will, setzt voraus, sich zu vergegenwärtigen, wo man selbst steht – und stelle die Vorgehensweise vor. Etwas roboterhaft lasse ich die Schüler:innen durch den Raum gehen und einen Ort finden, an dem sie gut für sich sein können. Alle setzen sich auf Stühle oder Tische an den Rand, Freunde sitzen zusammen. Richtig zur Ruhe gekommen sind wir nicht. Wir gehen trotzdem mit und akzeptieren ihre Entscheidung, auch wenn ich ahne, dass diese Konstellation für die Konzentration nicht förderlich sein wird. Um nach der 10 minütigen Selbstreflexion zu Kleingruppen zu kommen, ordne ich an, reihum bis 5 durchzuzählen, weil wir wollen, dass sie sich mit Menschen austauschen, die sie noch nicht so gut kennen und sie zu 15. sind. „Können wir es nicht anders machen?“ Ich zögere, uns ist wichtig, dass nicht beste Freund:innen zusammensitzen und Dreier-Gruppen entstehen, aber der einzige Weg dorthin, wäre das Durchzählen sicher nicht. Ich spüre die Zeit, die gnadenlos voranschreitet. Leoni wirkt, als wolle sie darauf eingehen, aber zögert auch. Die Lehrerin meldet sich zu Wort und sagt, dass die Auszählmethode unsere Forderung sei und das jetzt gemacht wird. Leonie und ich und auch die Schüler:innen gehen mit.
Eine vertane Chance, wie wir nachher bemerken. Nein, noch schlimmer, es sind genau diese Momente, um die es uns eigentlich gehen müsste im Workshop. Ein Wille, ein Gegenvorschlag zu unserer Vorgehensweise bekundet sich. Alle sind betroffen, genau dies ist ein Entscheidungsmoment, wo wir unterstützen wollen, dass die Gruppe ihn greifen kann. Selbstredend können wir unseren Willen als Moderator:innen, unseren Willen, dass sie sich mit Menschen austauschen, die sie noch nicht so gut kennen, mit in den Prozess geben, aber der Wille zu entscheiden und letztlich die Entscheidung selbst, liegt bei den Schüler:innen oder sollte es zumindest in diesem Demokratie-Workshop. Unsere Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, dass sie sich nicht nach dem Prinzip der/die Lautere oder Stärkere oder eine Teilgruppe setzt sich durch entscheiden, sondern dass alle die Chance haben, an dem Entscheidungsprozess teilzuhaben und bei der Entscheidung selbst beachtet werden. Trotz dieser undemokratischen Vorgehensweise in der Kleingruppenfrage – die Praxis zu leben und in ihr wachsam zu sein, ist eben etwas anderes als die Theorie – nehmen alle die Kleingruppeneinteilung und die Aufgabe, sich über die Ergebnisse der Selbst-Reflexionsaufgabe zuvor – Wo fühlst du dich hilflos und wünschst dir Veränderung (im Persönlichen, in der Gesellschaft, in der Welt) – auszutauschen an.
Dann ist Pause. Ich gehe auf Toilette. Das mittlere Waschbecken ist ausgebaut. Es gibt keine Seife. Auf den Gängen sind fossile Laufrichtungs-Markierungen und Abstandshinweise aus der Corona-Zeit. Darauf angesprochen wird mir zurückgemeldet, dass sich einfach keiner mehr drum gekümmert hat. Wir überlegen zu den anderen ins Klassenzimmer zu gehen, halten es dann aber doch für besser, während der Workshopzeit, keinen Informationsaustausch zu haben. Es könnte das Geschehen beeinflussen. Dann geht es weiter.
Ich moderiere das Herausfinden der Themen aus den Kleingruppen. Leoni schreibt mit, fragt gelegentlich etwas nach und mit der jeweils redenden Schüler:in finden wir die Themenbegriffe und Positionierung auf der Tafel. Es gibt Ober- und Unterthemen, verknüpfte Themen, Zwischenthemen. Das Vortragen der Themen ist wortgewandt, auf den Punkt und berührt mich an mehreren Stellen. Insbesondere das Thema Schule und das BLF (besondere Leistungsfeststellung) bewegt viele. Persönliche freue ich mich neben vielen nachvollziehbar genannten Problemen wie Armut, Tierschutz oder Schulstress über ein Plädoyer für mehr Schulfreude. Nach der abschließenden Frage, ob jemand, der noch nicht gesprochen hat, noch ein Thema vorbringen will, wobei eine Schülerin von den anderen ermutigt wird, nochmal etwas zu teilen, schließen wir den Teil. Nun kommt der Teil der öffentlichen Rede für oder gegen ein Thema, der die Themenwahlliste und schließlich die Abstimmung für ein Thema vorbereiten soll. Weil ich die Methode bereits kenne, moderiere ich weiter. Leoni macht sich Notizen. Alle anderen stellen sich im Kreis auf, die Lehrerin ist mittlerweile mit ihrem Stuhl in den Hintergrund gerückt. Zuvor hatte sie bei einer Kleingruppe noch zugehört. Im Kreisraum gibt es die Chance für oder gegen ein Thema zu sprechen, vor dem Hintergrund, dass sich nach der Wahl, für den Rest des Workshops damit beschäftigt wird. Die Zuhörenden sollen nach dem Vortrag des Arguments ihre Zustimmung oder Nicht-Zustimmung zu diesem durch die Verringerung oder Vergrößerung ihrer körperlichen Distanz zur Redner:in ausdrücken. Ich nehme mir ein Thema von der Tafel und mache es vor. Das Prinzip wird deutlich und wir gehen alle wieder in den Kreis zurück. Nach und nach wagen sich Menschen in den Kreis. Manche drehen sich zu allen beim Sprechen, doch die meisten sprechen zu Leoni und mir. Ein Austauschschüler aus Kolumbien trägt vor, warum das Verkehrssystem in seiner Hauptstadt eine Katastrophe ist, keiner stellt sich dazu. Die Betroffenheit fehlt. Erst nach ein paar Durchläufen frage ich auch diejenigen, die sich zum Argument positionieren, warum sie dort stehen, wo sie stehen? Ein noch differenzierteres Bild entsteht. Eine Person nahm beispielsweise großen Abstand vom Argument für das Tierschutz-Thema. Sie hat kaum mit Tieren zu tun und hat gegen manche allergische Reaktionen. Eine andere sah den Zusammenhang der Gewaltunterstützung durch Konsum aus Massentierhaltung bzw. ungerechten Haltungsmethoden. Meine Skepsis, dass man mit jüngeren Klassen nicht konkret oder niveauvoll über politische Themen reden kann, bröckelt. Nicht, dass wir mit diesen Workshops nicht versuchen, zu beweisen, dass ein solches Vorurteil gegenüber jungen Menschen grundsätzlich Unsinn ist – wir tun dies, darauf ist er angelegt –, es ist dennoch bewegend zu erleben, wie unsinnig es ist und welches Niveau die Schüler:innen in so kurzer Zeit erreichen können. Apropos Zeit, ich gebe, nachdem keiner mehr Anstalten macht, in den Kreis zu gehen, die letzte Chance, wobei ich mit den Armen das Kleiner-Werden dieser Chance signalisiere. Kurz vor knapp überwindet sich noch jemand. „Frau XY abschaffen!“ Bis auf ein paar Lacher bekommt sie keine Zustimmung. Die Schüler*innen nehmen die Methode ernst.
Aufgrund von Zeitknappheit gehen wir direkt zur Abstimmung über. Nun gilt es zuerst die Themenwahlliste festzuhalten. Hier kommt Leoni ins Spiel, die mitgeschrieben und beobachtet hat, welche Themen aufgegriffen wurden und wie viel Anklang bekamen. Bei dem Verkehrsmittel-Thema ist sie unsicher und entscheidet sich dafür, einen Mehrheitsentscheid darüber zu machen, ob das Thema auf die Liste soll oder nicht. Meinem Verständnis nach weicht sie hier vom Plan ab, einen Vorschlag der gesamten Themenwahlliste aufzusagen oder -schreiben und dann nach Widerständen zu dieser Liste zu fragen. Ich schreite jedoch nicht ein. Ein Fehler, beide Moderator:innen sollten damit mitgehen können, wie vorgegangen wird, und sich nicht davor scheuen, sich im Zweifel kurz die Zeit zu nehmen, das zu verhandeln. Dieses Verhandeln unterschiedlicher Vorstellungen und Bedürfnisse als Teilnehmende mitzubekommen wäre nur im Sinne des demokratischen Lernens und dennoch kostet es Mut, ist doch die gängige Vorstellung, dass man den Schüler:innen immer einen Schritt voraus sein, den Plan haben und als Lehrende zusammenhalten muss. Jetzt ging es also ans Eingemachte, eine Abstimmung, ob das Thema: „Verkehrsmittel in Kolumbien“ zur Wahl stehen darf. 8 zu 7 dagegen. In meinem Kopf rattert es. Die Zeit ist sowieso schon knapp und wir müssten im Sinne der Gleichberechtigung nun auch über alle anderen Themen per Mehrheitsentscheid abstimmen, zudem greift an dieser Stelle die Parteien und Meinungsfreiheit-Analogie. Auch eine Meinung, die ich für unsinnig halte, muss sich aufstellen können, wenn sie die Mindestbedingungen erfüllt, um sich aufstellen lassen zu können. Wie waren aber diese Bedingungen? So ganz durchsichtig war unser Verfahren da nicht. Themen, für die in der öffentlichen Runde nicht gesprochen wird, fallen raus, lautete unsere Absprache. Aber sie war nicht nochmal klar mit den Schüler:innen bewusst festgehalten und abgesegnet worden, sondern eine Nacht alt, ja Leonie und ich waren gar im Missverständnis darüber, was wir abgesprochen hatten. Und so kam es nun zu dieser spontanen Abstimmung, über die ich mich mit einer nur kurzen Andeutung der obigen Argumente hinwegsetzte. Verkehrsmittel in Kolumbien bleibt drin, es ist niemand gezwungen dafür zu stimmen. Wir haben nicht die Zeit alle Themen per Mehrheitsentscheid abzustimmen. Leoni ließ das blöd dastehen, die Entscheidung auch und die Lernchance, genauer auf die Wichtigkeit, die Verfahren vorher zu klären, zu schauen, war vertan. Denn ein plötzlich durchgeführtes demokratisches Verfahren kann auch illegitim sein, wenn es dem Zeitpunkt oder der Sache nicht entspricht. Beispielsweise denke ich hier an Referenden, ausgeführt von einzelnen Machthabern, um sich in ihrer Macht bestätigen zu lassen oder um durch die Stimmung des Volkes, eine bestimmte Entscheidung durchzubekommen, aber eben auch an eine Mehrheitsabstimmung, über das Thema oder diejenigen, die sich zu einer Wahl aufstellen dürfen. An dieser Stelle müssen folglich andere demokratische Regelungen gelten und sie müssen vorher für alle einsehbar festgehalten sein. Im Sinne der Transparenz und Eindeutigkeit im Prozess, die spätestens jetzt spürbar gefordert war, schreibe ich die Themen, die zur Wahl stehen, an die Tafel. Es gibt keine Widerstände gegen die Liste. Bei der Frage, ob BLF unter das Thema Schule fällt oder als eigenes Thema antreten sollte, wird sich von der Person, die es eingebracht hatte, für letzteres ausgesprochen.
Als Abstimmungsleiter erkläre ich nun, dass jede:r Schüler:in einen Zettel bekommen wird, auf den sie in geheimer Wahl das Thema schreibt, zu dem sie konkrete Projekte entwickeln möchte. Dann spreche ich die Frage an, was bei Stimmgleichheit oder einem knappen Unterschied passieren bzw. wann es zur Stichwahl kommen soll? Herrlich unkonkret von mir und die Gruppe, in dem, was ich will, überfordernd, geht sie nicht wirklich darauf ein, aber anstatt, nachzufragen, ob sie gerade nachvollziehen können, worum es mir geht, halte ich fest: Stichwahl nur bei Stimmgleichheit. Wir gehen herum und verteilen die Stimmzettel. Als Wahlurne dient meine Schirmmütze in der Mitte des Raumes. Mir fällt ein, dass es eine Deadline geben sollte, bis zu der man Zeit hat seine Stimme abzugeben und ich rufe in 5 min, also 11:00 aus. Alle geben rechtzeitig und die meisten sehr zügig ihre Stimme ab. Zur Stimmauszählung hole ich mir eine freiwillig helfende Person aus der Klasse. Das 4-Augen Prinzip unterstützt zudem das Vertrauen darin, dass alles korrekt abläuft. Ein knappes Rennen zwischen dem Thema Schule und Verkehrsmittel in Kolumbien entbrennt. Es wird getuschelt, die Jungsgruppe schaut gespannt, die anderen vermuten wohl zurecht eine den Prozess oder unsere Autorität, letztlich de facto beides untergraben wollende Absprache. Jemand freut sich, dass sich noch jemand für Tierschutz interessiert. Die Verkehrsmittel gewinnen mit 5 zu 4. Es gibt Freude über den Sieg und Empörung über das unbrauchbare Ergebnis. Auch die Lehrerin gibt Kommentare ab. Der Ruf nach einer Stichwahl kommt. Wie ungünstig, dass dieser Punkt nicht wirklich bewusst behandelt und letztlich als mit Stimmgleichheit festgehalten wurde. Abermals müssen wir improvisieren und machen auf Antrag einer Schülerin einen Mehrheitsentscheid, ob es eine Stichwahl geben soll oder nicht. 6 dafür, 6 dagegen und zwei Enthaltungen. Ach ja, eine Person war aus Termingründen in der Pause gegangen. Stellt sich mir die Frage, wie die 8 zu 7 zustande gekommen sind… Genauigkeit wird zur Tugend, weil mit der Möglichkeit von willentlicher oder unwillentlicher Ungenauigkeit gerechnet werden muss und diese verheerende Konsequenzen hätte. Genauso verheerend wie das Autoritätsprinzip, also wie die Lehrerin als Lehrerin, die sich abermals einmischt und Druck auf die Jungsgruppe und die sich enthaltenden Personen macht. Beim zweiten Durchgang der Abstimmung über die Abstimmung gewinnt die Stimme für die Stichwahl mit 8 zu 6. Die Stichwahl selbst wird abermals geheim und mit einer neuen helfenden Person ausgeführt. 8 zu 6 für das Thema Schule. Es scheint, als hätten Parteizugehörigkeiten und Machtfragen, die Frage nach einer hinführenden Sachentscheidung, ein Thema zu finden, abgelöst. Leider gibt es keine Zeit, das zu thematisieren, wenn wir auch noch zu den konkreten Projekten kommen müssen. Mit etwas Übung ließen sich in Zukunft vielleicht dennoch ein paar Stimmen einholen. Was jemanden bewogen hat, im zweiten Durchgang für Schule oder für die Verkehrsmittel zu stimmen? Wie es ihnen mit der Entscheidung geht und wie es ihnen mit dem Prozess hin zu Entscheidung geht? An dieser Stelle kann ich nur auf das Demokratieerziehungsprogramm „Betzavta“ hinweisen, das genau auf solche Reflexionen im Anschluss an eine Gruppenerfahrung mit einer oder mehreren Entscheidungen angelegt ist. Es wäre ideal, am Tag darauf, die Zeit dafür zu haben. Das Lernpotential durch solche selbst kreierten Erfahrungen über Demokratie als Gesellschafts- und Regierungsform und Prozess als solchen erscheint mir enorm.
Wie dem auch sei, das Ergebnis steht und nach einer kurzen Pause, geht es zurück in die Kleingruppen vom Anfang, um mit Hilfe von drei Fragen, zu konkreten Projekten zu kommen. Abermals gibt es Unmut über die Gruppenzusammensetzung. Ich frage nach einem Vorschlag, die Gruppen anders einzuteilen, der alle berücksichtigt (und nicht einfach bedeutet, mit seinen Freund:innen abzuhängen), aber es kommt nichts. Stimmen aus der Gruppe mehren sich, nun einfach wieder in die alten Kleingruppen zu gehen. Am Ende entstehen alte und neue Kleingruppen. Ein letztlich non-verbal gefundener Kompromiss. Es ist gut genug, um weiterzumachen. Leoni teilt die erste Farbe an Zetteln aus und schreibt die entsprechende Frage an die Tafel usw. 1. Kompromissloses Träumen. Stellt euch vor, alles ist möglich, was würdet ihr verändern wollen? 2. Was gibt es schon? (An Ideen, an Lösungsansätzen zu dem Thema?) 3. Was können wir konkret tun? Bei dem anschließenden Mitteilen in der Großgruppe zeigt sich, dass die Methode, Stück für Stück die Farbzettel auszuteilen und die Fragen dranzuschreiben, gut funktioniert hat. Aufgrund knapper Zeit setze ich mich mit dem Vorschlag durch, dass jede Gruppe alles auf einmal vorstellt, indem die Zettel mittig zwischen allen auf dem Boden platziert werden. Herumgeschoben und sortiert wird zwischendurch wenig. Eine Runde pro Frage zu machen und darauf zu achten oder es vorzumachen, die Zettel bereits direkt umherzuschieben, hätte sicher die Aufmerksamkeit und Kreativität gefördert. So nahmen wir uns dies zur Aufgabe in der großen Pause und schreiben, weil manche Zettel mehrere Punkte auf einmal hatten, konkrete Projektideetitel auf einzelne Zettel heraus, wenn vorhanden mit den Worten der Schüler:innen. Uns fällt auf, dass alle Zettel zu uns als Moderator:innen zeigen, auch die Vorstellungen in der Großgruppe waren wieder hauptsächlich an uns gerichtet. Wir drehen die Zettel im Halbkreis zu den Stühlen der Schüler:innen. (Die Lehrerin sitzt mittlerweile außerhalb des Halbkreises.) Zurück aus der Pause moderiert Leoni den nächsten Schritt, sich eine Projektidee zu suchen und mit dem Zettel in eine Ecke zu gehen, sodass andere dazu können. Es funktioniert nach kurzem Zögern wie von selbst. Mit der Aufgabe nun genauer zu werden: Was soll konkret verwirklicht werden? Was und wen braucht es dafür? – entsteht ein surrendes Kleingruppenmiteinander, bei dem wir ansprechbar bereitstehen. Hier und da frage ich nach, ob sie Unterstützung brauchen. Letztlich brauchen die meisten nur mehr Zeit. Einem Verlängerungsantrag von 5 min kann ich gerade so stattgeben, sodass ein halbe Stunde bleibt, den aktuellen Stand der Projekte vorzustellen und sich durch kurze Ideenaustausche in der Großgruppe zu unterstützen. Anhand des Projekts, die Bäder mit frischer Seife und weiblichen Hygiene-Artikeln auszustatten, zeigt sich ein Bedürfnis, gemeinsam ins Weiterdenken und Diskutieren zu gehen. Dieses muss sich dem größeren Ziel, dass alle Gruppen Zeit bekommen müssen, sich vorzustellen, unterordnen, sodass ich teilweise auch etwas rigoroser zur nächsten Gruppe weitergehe. Spätestens in dieser Großgruppenvorstellung schwämmt die Begeisterung über die Denkfähigkeit dieser 9. Klasse auch letzte Zweifel über ihr Niveau, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen, beiseite. Eine Gruppe hat sich das Projekt, mehr Klassenfahrten und -ausflüge genommen und stellt vor, warum sie es so wichtig finden: Klassenfahrten „fördern Gemeinschaft“, „sind die Momente, die in Erinnerung bleiben“, stellen Überlegungen zur Finanzierung an, und bemerken, dass sie Ausflüge oder Fahrten mit anderen Schulen klasse fänden, weil sie sich den Austausch als sehr bereichernd vorstellen. Ein anderes Projekt widmet sich dem Wunsch nach mehr Sport in Form eines Sporttages. Ihre Vorgehensweise sähe so aus, dass sie versuchen würden, herauszufinden, wer alles daran Interesse hat und an welchen Sportarten und dass sie mit den Sportlehrer:innen sprechen würden, ob sie dabei sind. Auch hier wäre eine Kooperation mit anderen Schulen denkbar. Kurz entbrennt eine Diskussion, was die machen würden, die nicht an dem freiwilligen Sporttag teilnehmen? Schule oder sie werden doch gezwungen? Die Lehrerin kommt grundsätzlich mit dem Aufsichtspflicht Argument als Zweifel an dem Sporttag. Sie scheint das mit dem Einbezug der Sportlehrer:innen nicht mitbekommen zu haben. Eine dritte Gruppe hat uns zwischendurch höflich gefragt, ob sie auch zwei Themen – keine Benotung und öffentliches Gespräch über Schulstress – zusammenlegen dürfen, schließlich passen sie ja gut zusammen. Wir haben sie nur bestärkt, wobei ich am liebsten gesagt hätte, dass die Frage unpassend sei, weil sie alles machen dürfen, was für sie geht, aber das wäre falsch angekommen. Stattdessen gab ich ihnen in dieser Situation noch mit, dass es in Thüringen die Möglichkeit eines Einwohnerantrags gibt. Dieser verpflichtet, wenn genug Unterschriften in der entsprechenden Gemeinde zusammenkommen – 1 % der Stimmberechtigten der Gemeinde, max. aber 300 – den Gemeinderat in einer öffentlichen Sitzung über die beantragte Angelegenheit zu sprechen. Unterschriften sind bereits ab 14 Jahren gültig. Die Gruppe stellt nun also in der Großgruppe vor, dass sie das Schülerparlament wiederbeleben wollen, um mit allen darüber zu sprechen und es in der Gemeinde diese Möglichkeit mit den 300 Stimmen gäbe. Ich sichere Ihnen die genauen Gesetzartikel mit einem Handout per Mail im Nachhinein zu. Zwischendrin kam die Jungsgruppe zu Wort, die mit dem Thema „Verkehrsmittel in Kolumbien“ weitergemacht hatte. Sie waren nicht sehr konkret geworden und trotzdem machte es Spaß, kurz mit ihnen zu überlegen, was sie gegen die Korruption des Bürgermeisters oder viel zu langsame Verkehrsmittel auf dem Weg zur Schule machen könnten. Viel interessanter wäre natürlich gewesen, das Phänomen selbst zu thematisieren. Was legitimiert eine Entscheidung so sehr, sodass auch diejenigen, deren Position sich nicht durchgesetzt hat, mitmachen? Oder andersherum, woher nahmen sie sich das Recht, die Gruppenentscheidung, mit dem Thema Schule, weiterzumachen, zu ignorieren?
Im anschließenden Abschlussstatement greife ich diesen Aspekt auf, der mir nochmal die Wichtigkeit gezeigt hat, die Verfahren aufmerksam gemeinsam zu klären, da es undemokratisch ist, im Nachhinein, die Regeln anzupassen, nur weil einem das Ergebnis nicht passt. So eindeutig war unser Fall nicht, schließlich hatten wir schlicht viel zu wenig beschlossen. Es wurde nicht ausdrücklich gesagt, dass einem Antrag auf Abstimmung über eine Stichwahl aus der Gruppe nicht stattgegeben werden darf, und schließlich gab diese Abstimmung denjenigen, denen es um die Wichtigkeit der Verfahrensbeachtung ging, also im Nachhinein nicht die Regeln zu verändern – Stichwahl nur bei Stimmgleichheit – die Chance, sich durchzusetzen. Dann hätten wir mit den Verkehrsmitteln weitergemacht. Dies hätte gezeigt, dass der Respekt vor dem Verfahren größer ist als der Wunsch, ein brauchbares Ergebnis zu bekommen. Faktisch wurde die Verfahrensfrage zur Parteienfrage, weil die Jungsgruppe schnell erkannte, dass sie bei einer Stichwahl verlieren würde. Und ist nicht das, genau das, was passiert, wenn Verfahren z. B. zur Besetzung von Richtern in Polen, der Größe des Senats in den USA usw. so verändert werden, dass sie den Sieg der eigenen Partei wahrscheinlicher machen? Die überparteiliche Einigung auf demokratische Verfahren, die alle gleich behandeln, wird so zum parteiischen Geschacher, bei dem die Angst vor oder die Hoffnung auf mögliche Ergebnisse, zwangsweise eine Abweichung vom demokratischen Ideal bedeutet: Dem Prinzip der Gleichheit und der Gleichberechtigung unabhängig und vor jeder Erfahrung. Die Qualität eines demokratischen Miteinanders hängt vom Willen ab, dieses Prinzip kontinuierlich zu verwirklichen, in welche Fahrwasser man auch zusammen gerät. Genauso hängen die Projektideen vom Willen der Schüler:innen ab. Sie bekommen keine Note, keine Belohnung, sie haben keinen bedingt strukturellen Zwang wie es ihn bspw. im Studium gibt, wenn man selbst ausgedachte Projekte machen muss, um weiterzukommen. Nein, die Belohnung wäre der Lernprozess und die konkrete Erfahrung selbst. Die Erfahrung, dass es ein öffentliches Gespräch im Gemeinderat zu mentaler Gesundheit in der Schule gibt, die Erfahrung, dass es weibliche Hygiene-Artikel in den Schultoiletten gibt, die Erfahrung eines Klassenausflugs mit Schüler:innen anderer Schulen. Diese Erfahrungen wären dann nur durch den Willen und die Initiativkraft der Schüler:innen Wirklichkeit geworden. Sein Umfeld, seine Stadt, seine Gesellschaft mitzugestalten, um sie zu einem lebenswerteren Ort zu machen, muss immer die Belohnung selbst sein. Alles andere hieße politische Verantwortungsübernahme von Anreizen oder von Druck abhängig zu machen oder sich ihr gegenüber schlichtweg gleichgültig zu verhalten. Es hieße, uns kollektiv zu entmündigen und unserer Entscheidungsfähigkeit zu berauben. Als würde man bezogen auf das eigene Leben eine Vollmacht an seine Eltern oder seinen Geliebten ausstellen, die für einen entscheiden, wie man ein glückliches Leben führt. Genau das tun wir gerade bezogen darauf, wie wir in unserem Land gemeinsam ein glückliches Miteinander leben wollen, mit der Einschränkung, dass wir versuchen können, alle vier Jahre den Partner zu wechseln. Aber das ist eine andere Geschichte.
Um zu uns zurückzukommen, spricht Leoni das Bienenwachs an. Konntet ihr eine Veränderung beobachten? Was ist mit dem Wachs passiert? Es wurde wärmer und weich. Haha, weich. Ich habe gesehen, einige haben auch Sachen geformt. Das eine sieht aus wie das Wappen von einem Fußballverein. Ja, aus meiner Heimatstadt in Kolumbien, bester Verein der Welt. Es war sehr entspannend etwas in der Hand zu haben, sagt eine andere. Als keine weiteren Stimmen mehr kommen, erzählt Leoni, wofür das Bienenwachs für sie steht. Manchmal fühlt sich die Welt oder eine Situation so hart an, als ließe sich nichts verändern, wie das Bienenwachs am Anfang. Mit Zeit und Zuwendung erwärmt sich die Situation, weicht auf und plötzlich lässt sich Stück für Stück etwas verändern. Daran erinnert es mich. Die Schüler:innen hören aufmerksam zu.
Für die Abschlussrunde haben wir uns wieder drei Fragen überlegt, die man gebündelt beantwortet. Allen geht es nachwievor gut. Zur Frage, ob ihnen etwas gut oder nicht gut gefallen hat, wird nur auf ersteres eingegangen. Kleingruppenarbeit wird genannt, dass es so entspannt war, kommt aus der Jungsecke, ich befinde mich im Dilemma aufmerksam zuzuhören und die Redenden anzuschauen oder auf meinem Blatt mitzuschreiben. Insbesondere die Antworten auf die dritte Frage, was nimmst du mit? Begeistern mich. Einer erkennt erstaunt an, dass sie in den Kleingruppen zu Ideen gekommen sind, auf die er alleine nie gekommen wäre, er freut sich, dass nicht nur darüber gesprochen wurde, was schlecht ist, sondern erlebt wurde, wie schnell sich konkrete Veränderungsmöglichkeiten finden lassen. Erst einmal gab es in seiner Erinnerung ein Schulreflexionsgespräch, bei dem man allerdings beim Schlechten verharrt war. Andere betonen ihre Zuversicht, dass sich etwas verändern lässt, dass sie etwas verändern können oder dass es ihnen gefallen hat, die Meinung anderer zu hören und seine eigene mitteilen zu können. Am Ende wird auch die Lehrerin von einzelnen gebeten, etwas zu sagen. Sie teilt mit, dass sie viele Schüler:innen von anderen Seiten, kreativer, erlebt hat und dass sie die Projekte schon sehr konkret findet und hofft, dass weitergemacht wird. Letzte Ankündigungen kommen von unserer Seite. Allen wird noch ein Flyer zum Omnibus und zur Mitfahrmöglichkeit in die Hand gedrückt, dann ist die Zeit um. Die Tische bleiben am Rand, weil am nächsten Morgen Theater-AG ist. Schnell verstreuen sich die meisten. Ein Junge vergisst fast sein Wappen aus Wachs. Die entstandenen Zettel legen wir auf die Fensterbank. An der Rückwand der Klasse sind ein paar Zettel und gemalte Flaggen gepinnt. Einen Zettel aus dem Workshop, der zufällig davor herumschwirrt, wird von uns dazugepinnt. Wir konnten nicht widerstehen, auf ihm steht: „Bildungssystem verändern“.
Wir stellen den Lehrertisch und den Lehrerstuhl, der im Vergleich mit den Holzstühlen mit Holzsitzflächen der Schüler:innen als einziger aus rotem Metall und grau-gepolstert ist, zurück an seinen Platz. Wir hatten uns geweigert, auf ihm zu sitzen und für 5 Stunden ausprobiert, wie es sich anfühlt, den Lehrerstuhl aufs Abstellgleis zu tun.
Es gibt noch viel Luft nach oben. Die selbstverständliche, abgehobene Autoritätsmacht der Lehrerrolle konnte auch in unseren und selbstverständlich in den Köpfen der Schüler:innen wieder aktiviert werden. Am Ende sprachen uns viele mit „Sie“ an, zudem war die Präsenz der Lehrerin als Lehrerin zu stark. Es anders zu machen, braucht Ruhe und Aufmerksamkeit bei den Entscheidungen, wo es darauf ankommt. Eine davon war die Entscheidung, nicht auf die Schülerin einzugehen, die beim ersten Mal, die Kleingruppen anders einteilen wollte. Genauso wie die Rolle der Lehrerin nicht sein sollte, im Alleingang zu entscheiden, was wann wie gelernt wird, sondern einem Lernwillen zu helfen, seine Bahn zu finden, darauf zu bleiben und immer feinere Aufmerksamkeit und Fähigkeit zu entwickeln, genauso ist die Aufgabe der Moderation eines demokratischen Gruppenprozesses nicht, zu entscheiden, was wann wie gemacht wird, sondern dem Gruppenwillen zu helfen, seine Bahn zu finden unter der Voraussetzung, dass alle das gleiche Recht haben, mit ihrem individuellen Willen in die Entscheidungen einzufließen. Wichtig ist, dass nicht jede Entscheidung spontan verhandelt wird, aber dass es zu jeder Entscheidung, in unserem Fall auch zur Gesamtstruktur des Workshops, die wir Moderator:innen vorher entschieden haben, rechtzeitig die Chance gibt, seine Bauchschmerzen oder Änderungsvorschläge einzubringen. Ja, Demokratie ist die gleichberechtigte Chance, sich einzubringen, aber dies ist nur zum einen eine strukturelle Frage, ganz praktisch ist es eine Frage des Timings, des persönlichen Mutes und letztlich des gemeinsamen Willens, diese Bewegung und Qualität, dass sich alle rechtzeitig in Entscheidungsprozesse einbringen können und dass Entscheidungen von allen Betroffenen gemeinsam getroffen werden, aufmerksam auszuüben. Und auch wenn dieses Mal der leibhaftige Omnibus für direkte Demokratie noch nicht auf dem Schulhof dabei sein konnte, war er doch der Idee nach dabei: Omnibus, das meint: Für alle – durch alle – mit allen.
Jannik Howind, Marburg 11.06.2024