Demokratie leben – ein Reflektionsbericht
Der Bericht bezieht sich auf die Teilnahme an dem Workshop „Mehr als wählen. Die Demokratie in mir.“ im Mai 2022 in Witten. Geleitet wurde er von Anna Hürten, Sozialarbeiterin und seit Jahren in der politischen Bildungsarbeit tätig, und Jonas Heidebrecht, Betzavta Demokratie-Trainer aus Essen. Sie arbeiten beide mit der Betzavta-Methode, die vom ADAM-Institute for Democracy and peace in Jerusalem (http://adaminstitute.org.il/english) entwickelt worden ist. Betzavta versteht Demokratie als Lebensform und arbeitet in erster Linie mit erfahrungsbasierten Übungen.
17:28. In einem Raum mit warmem Holzboden und breiter Fensterfront zur Straße werde ich von einer lockeren Gesprächsstimmung begrüßt, wie man sie häufig vor Veranstaltungen erlebt. Ich habe tierisch Hunger. Es gibt ein liebevoll gedecktes Buffet mit Limonaden, Trauben, Cherrytomaten und kleinen Weißbrötchenhappen. Man darf sich bereits etwas nehmen und ich schlage in dem Maße, wie ich es gerade noch vertreten kann, zu. Der Workshop wird geleitet von Anna und Jonas. Die Teilnehmenden sind alle Vertreter:innen verschiedener Initiativen in Witten. Die gegenseitige kurze Vorstellungsrunde ist knapp und angenehm moderiert. Anna und Jonas scheinen sich gut zu fühlen. Sie strahlen eine lebendige Dynamik und Vorfreude auf die kommenden gemeinsamen dreieinhalb Stunden aus. In mehreren Speed-Dating Runden lernen wir uns zu zweit weiter kennen und werden durch die Fragen der Dating-Runden an das Thema Demokratie geführt: „Was war eine nicht- demokratische Situation, die du zuletzt erlebt hast?“, was war eine demokratische? In etwas größeren (in ihrem Zustandekommen der Dynamik im Raum überlassenen) Gruppen stellen wir uns die Frage, welche Werte wir als erstes mit Demokratie verbinden. Offenheit, Diversität, Gleichheit und andere werden genannt. Anstatt in eine Diskussion zu wechseln oder uns frontal anhören zu dürfen, was denn nun wirklich Demokratie bedeutet, sehen wir uns einer sozialen Erfahrungssituation ausgesetzt. Wir haben frisch Gruppen aus drei bis vier Personen gebildet und einen Team-Namen und Anfeuerungsruf gefunden. Auf dem Boden finden sich etwa Din-A4 große, runde Zettel, die schneckenförmig angeordnet sind. 25 Zettel mit den entsprechenden aufeinanderfolgenden Zahlen auf dem Papier. Die Eins ganz außen am Ende. Auf manchen Blättern sind kleine Süßigkeiten verteilt, auf dem letzten befindet sich eine ganze Tafel Schokolade. Zudem sind manche Zettel in goldener Farbe. Jedes Team soll nun eine Person auswählen, die vortritt. Ziemlich schnell finden sich die drei Personen zusammen. Bei Anna dürfen sie jeder einen Zettel mit einer Zahl, die ihre Startposition sein wird, ziehen. Die anderen Teilnehmenden verteilen sich in ihren Teams gruppiert zurück auf ihren Stühlen um das Feld aus Blättern mit Zahlen, das nun offensichtlich als Spielfeld verstanden wird. Die Person, die die 6 als Startposition gezogen hat, darf anfangen. „Ist ja fair!“ ertönt vom Rand als sarkastische Bemerkung. Geändert wird an der Regel nichts. Elena (alle Namen der Teilnehmenden wurden in diesem Bericht geändert) wirft einen handballgroßen Schaumwürfel. „6“. Sie überquert das erste goldene Feld. Wir erfahren, sie darf sich nun eine Regel ausdenken und auf ein weißes Flipchart-Papier aufschreiben. „Wer eine «2» würfelt, muss 3 Felder zurückgehen“. Später kommen auch noch würfelunabhängigere Regeln dazu. „Die spielende Person darf sich vor einem Wurf auswechseln lassen. Der nächste Wurf zählt dann doppelt.“ Ein Team berät sich in einer Situation, ob die Regel eingeführt werden soll, dass man mit dem Wurf einer «1» direkt gewinnt. Es wird sich dagegen entschieden. Ein paar Mal wechseln sich Spieler:innen aus, aber ansonsten bleibt die Rolle der anderen Team-Mitglieder auf passives Zuschauen beschränkt. Keine Anfeuerungsrufe, keine Einmischungen in die Regelaufsetzung. Erst am Ende als die Gewinnerin entscheidet, dass jede Person im Raum ein Stück von der Schokolade bekommt, werden alle aktiv miteinbezogen. Wir kommen wieder im Kreis auf unseren Stühlen zusammen. Jonas hat allen ein rundes grünes und ein rundes rotes Papierstück gegeben. Mit den beiden Farben sollen wir nun ausdrücken, wie gut wir uns bei der Gruppenerfahrung gefühlt haben. Ob wir Spaß hatten. Es erscheinen grüne Zettel vor den Sitzenden und rote und rot-grün sich überlagernde. Ich selbst lege beide Farben übereinander. Meine Rolle als außenstehendes Teammitglied war mir ziemlich diffus. Erste Impulse unseren Spieler anzufeuern, bin ich nicht nachgegangen. Wie sich rausstellte, war ich damit nicht allein. Mit der Zeit hat sich meine Passivität verstärkt und die Lust als Spieler am Spiel teilzunehmen, die ich anfangs tatsächlich verspürte, verringert. Ich hatte mich zunehmend unwohler in meiner unklaren Außenteammitglieds-Rolle gefühlt. Hoffnung, bis zum Ende außen bleiben zu können, war entstanden. Rechtfertigungsgedanken, dass es ja spannend sei, viel beobachten zu können, sind aufgekommen. Und gleichzeitig hatte ich mich zunehmend selbst beobachtet und versucht, herauszufinden, was von mir in der Situation gefordert war. Was wohl akzeptiert werden würde und was nicht. Ein Gefühl für meine Bedürfnisse während des Spiels ging nach und nach verloren. Auch damit war ich nicht allein. Eine außensitzende Person hätte sehr gerne als Spieler agiert, hatte aber nie ein entsprechendes Zeichen gegeben. Andere hätten gerne angefeuert oder bei den Regeln mitgesprochen, taten aber auch nichts, um diesen Bedürfnissen nachzugehen. Die Spielenden selbst waren sehr auf das Gewinnen des Spiels ausgerichtet.
Anna und Jonas fragten abwechselnd unterschiedliche Teilnehmer:innen, warum sie die Farbe gelegt hatten. Mit Nachdruck wurden Teilnehmende ein wenig in die Mangel genommen, warum sie denn nicht für ihre Bedürfnisse eingestanden sind, warum sie denn nichts unternommen hätten, warum sie nicht partizipiert hatten. Und auf der anderen Seite stand die Frage, warum die Spielenden ihre Teammitglieder nicht stärker aktiv miteinbezogen hatten? Obwohl wir vorher unsere demokratischen Werte, wenn auch nur kurz, reflektiert haben, haben wir sie alle ziemlich schnell im Spiel über Bord geworfen. Oder waren wir einfach nicht in der Lage, für sie einzustehen? Was hat uns dazu bewegt, so zu handeln, wie wir gehandelt haben?
Die beiden Workshop Anleitenden haben nicht explizit gesagt, dass wir die Situation nicht als eine Wettbewerbs-, Konkurrenz-, Gewinnsituation verstehen sollen, bei der es um Schnelligkeit und Vorankommen geht. Aber sie haben auch nicht gesagt, dass wir sie so verstehen sollen. Allein der optische Eindruck des Spielfeldes hatte zumindest bei mir, offensichtlich aber auch bei nahezu allen anderen, gereicht, um genau diese Werte in den Vordergrund zu bringen. Und trotzdem hätte sich das Spielen auch ganz anders anfühlen können, wenn mehr Teamgeist und Partizipationswillen bestanden hätte. Hier wurde von mehreren reflektiert, dass die kurze Kennenlernzeit als Team nicht ausgereicht hatte, ein Gefühl füreinander und auch ein Vertrauen zueinander aufzubauen, dass man egal, was wer macht, zusammenhalten würde. Das wirft jedoch die Frage auf, warum wir als Gruppe so schnell auf den Dampfer, alles muss schnell gehen, aufgesprungen sind? Viele Entscheidungssituationen, z. B. bereits die erste, wer überhaupt von den Teams ins Rennen geschickt wird, wurden hastig und ohne ein bewusstes gemeinsames Abtasten, wer gerade worauf Lust hat, abgewickelt. Gemeinsames Innehalten und Herausfinden, wer sich gerade wobei wohlfühlt und was wir tun, fand nicht statt. Genau das wäre das Öffnen eines demokratischen Gruppenprozesses gewesen. Viele Entscheidungen wurden folglich dadurch getroffen, dass eine Person vorangegangen ist und damit eine Richtung gesetzt hat, die in unserem Fall immer von der folgenden Person bestätigt wurde. Die erste Person, die eine Regel aufgestellt hat, hat sich nicht mit ihrem Team oder gar der Gruppe beraten. Alle folgenden taten es ihr gleich. Als außenstehende Gruppe hielten wir uns am Anfang sehr zurück. Keine Anfeuerungsrufe, kein lautes Einmischen in die Regelgebung. Diese Muster wurden nicht mehr aufgebrochen. Es wurden implizite Regeln. Die Spielenden haben einen höheren Status als die, die außen sitzen. Sie dürfen reden, laufen, sich bewegen, Regeln aufstellen. Die Außensitzenden bringen sich nur ein, wenn sie dazu eingeladen werden von den Spielenden oder von Anna und Jonas, (die jedoch während des Spiels komplett in den Hintergrund verschwanden). Es geht nicht um uns als Gruppe, sondern um die Spielenden. Sie tragen die Hauptverantwortung. All das haben wir nicht explizit so besprochen. Es hat sich ergeben. Aus dieser Erfahrung wird offensichtlich: Der Ruf danach, dass sich diejenigen, die nichts sagen einfach einbringen sollen, ist schlichtweg zu kurz gegriffen. Genauso ist der Gedanke falsch, zu überlegen, wie man andere dazubringen kann, dass sie sich einbringen. Der wirkliche Partizipationsschritt kommt immer aus einer selbständigen Verantwortungsübernahme, für die eigenen Bedürfnisse heraus. Niemand anderes kann wissen, was gerade in einem vorgeht. Der demokratische Gedanke wäre achtsam zu sein und besser darin zu werden, darüber zu kommunizieren, was einer braucht, um sich wohlzufühlen, die eigene Position bzw. die eigenen Bedürfnisse in einer Situation zu spüren und für sie einzustehen. Partizipationssteine aktiv aus dem Weg räumen. Bedingungen aufbauen, die uns unterstützen aktiv an einem Gruppengeschehen zu partizipieren, bevor es sich in eine Richtung bewegt, die uns unwohl ist. Das alles bedeutet nicht, einander in Ruhe zu lassen, bis sich jemand von alleine äußert. Anna und Jonas haben das eindrucksvoll gezeigt, indem sie den Teilnehmenden direkt Fragen gestellt haben. Offene, respektvolle Fragen, die wirkliches Interesse an der Wahrnehmung oder Meinung der Befragten Person ausdrücken.
Bei Demokratie geht es nicht um mich allein, sondern um uns. Um diejenigen, die in einer Situation zusammenkommen, die eine Entscheidung von ihnen verlangt, weil das was in der Folge passiert, alle in ihrem Wohlbefinden betreffen wird. Es spricht nichts dagegen, wenn sich eine Gruppe trifft und in einem kommunikativen Prozess entscheidet – aber wie entscheidet? – dass sie ein Wettbewerbsspiel spielen wollen, bei dem nur die Spielenden in der Mitte aktiv sind. Wir können schlussfolgern: Bei jedem Zusammenkommen von Menschen lautet eine Metafrage, wie sie sich entscheiden, was als nächstes passiert. Diese Metafrage gemeinsam thematisieren zu können, erscheint als essentielle demokratische Kompetenz. Voraussetzung ist, dass jeder der Menschen, die zusammenkommen, spüren, welche Bedürfnisse er oder sie in der Situation hat. Wie wichtig ist es mir gerade überhaupt mitzuentscheiden, was als nächstes passiert? Für welche Werte möchte ich gerade eintreten? Ist mir Schnelligkeit oder Gründlichkeit für die Dynamik, die wir im Begriff sind zu kreieren, wichtig? Und welche Handlungsschritte für die wir uns als nächstes entscheiden können, verkörpern diese Werte? Wünsche ich mir argumentative, sorgfältige Arbeit an Inhalten oder möchte ich euch als Menschen mit persönlicher Wahrnehmung und Beziehung zu einem Thema mitbekommen? Warum ist mir welche dieser Werte in dieser Situation wichtig? Je nachdem welche Werte sich durchsetzen, schaffen wir einen anderen Erfahrungsraum, andere Lernmöglichkeiten. Sich selbst immer wieder durchsichtig werden, geworfen in neue Kontexte mit neuen Menschen und Anforderungen, das ist die zentrale demokratische Kompetenz. Reflektionskompetenz, was ein Setting mit mir macht, in welche Haltung und Wertrichtung es mich drängt, gehört dazu. Von sich als Mensch mit eigener Wahrnehmung und eigenen Bedürfnissen sprechen zu können, gehört dazu. Sowie anderen so zuhören, dass ich ein Gefühl für ihre Wahrnehmung und ihre Bedürfnisse in einer Situation bekomme und ihre Äußerungen, ohne sie zu verurteilen, stehen lassen kann, auch das gehört dazu. Die demokratische Haltung in der Praxis zu leben, erfordert viel Übung. Zum Glück bietet jede neue Situation die Chance, sie zu trainieren. Wir müssen nur innehalten und diese Chance wahrnehmen.