Aftersun
Aftersun (2022)
Drehbuch und Regie: Charlotte Wells
„Aftersun“, das Debut der schottischen Filmschaffenden Charlotte Wells, strotzt nur so vor Kreativität, Mut und Feinfühligkeit. Die Kindheit und Erinnerung der mittlerweile 30-jährigen Sophie stehen im Mittelpunkt des Films, der eine ganz eigene Erzählstruktur aufweist. Mit Rücksprüngen in Rücksprüngen und Vorsprüngen wird eine Beziehung der Charaktere zu sich selbst über die Zeit hinweg geschaffen. Diese Suche nach der Identität von sich und ihrem Vater Calum löst zum Einstieg des Filmes bei Sophie die Erinnerung aus an den letzten gemeinsamen Urlaub in einem gut besuchten Hotel mit all-inclusive Bändern in der sonnigen Türkei. Damals war Sophie elf. Eine Zeit, in der erstmals ein scheues und doch starkes Interesse für das eigene und das andere Geschlecht aufkommt. Der Film glänzt mit feinen Beobachtungen zu ersten Andeutungen und Begegnungen mit Sexualität im Leben Sophies und webt sie geschickt ein in das, was den Kern des Films ausmacht. Die Beziehung von Sophie zu ihrem Vater und von Calum zu sich.
Ein emotionaler Marianengraben für die einen – mit all den wunderschönen Momenten und dem beklemmenden Grundgefühl, das so eine Tauchtour mit sich bringt – und ein Film zum Abgewöhnen des Kinos für die anderen. Die Spaltung des Publikums kulminiert im emotionalen Höhepunkt des Films, der für die Letzteren unverständlich sein wird. Warum wird er jetzt so gezeigt, fragen sie sich, während die Ersteren ahnen, dass „Aftersun“ sie noch Tage beschäftigen wird.
Um diese Spaltung des Publikums zu verstehen, hilft es, einen Blick auf die Anfänge des feministischen Kinos zu werfen. Gemeint ist nicht das Kino, das sich nur mit Frauenthemen beschäftigt oder Frauen als Hauptdarstellerinnen in den Mittelpunkt stellt, auch wenn das alles Teil davon sein kann. Gemeint ist das Kino, das aus einem weiblichen Blick, der weniger etwas Biologisches als etwas Kulturelles ist, geschaffen wird. Eine der ersten und bis heute wohl die bekannteste Regisseurin mit diesem Blick war die französische Künstlerin Agnes Varda. Ihr Film „Cleo 5 to 7“ (1962) über eine erfolgreiche Sängerin spielt sich in zwei Stunden ab, in denen wir sie in allerlei Momenten begleiten dürfen. Mit ruhiger Kamera wird dabei der Blick Cleos und manchmal der von Varda selbst eingefangen. Gesprächsfetzen der anderen Gäste im Cafe, Tauben im Park. Nichts davon ist zufällig und doch mag es so scheinen, denn wer nur auf das große Resultat, das Ergebnis wartet und sich nicht für das Wie der Erfahrung interessiert, der wird all diese Momente nicht in ihrer Bedeutsamkeit bemerken. „Aftersun“ erinnert an dieses Meisterwerk der Filmgeschichte. Der weibliche Blick des Kinos ist der Blick auf die Beziehungen der Charaktere zu anderen und zu sich durch das Wie ihrer Erfahrung. Es ist der Blick auf das, was im männlichen Blick des Kinos gar nicht erst gezeigt wird, für den nur Zählbares, nur faktische Wahrheit zählt.
Der Film wird zur Herausforderung für diejenigen, die sich bei den ergebnisorientierten Krimis oder Romanzen und nicht zuletzt den großen Blockbustern des heutigen Kinos – also dem männlichen Blick – wohlfühlen. Dem Kino, bei dem die Materialität der Welt aus den Fugen gerät, wenn wieder ein neuer Marvel- oder DC-Held seine Kindheit verarbeitet oder James Bond einen neuen Bösewicht rund um den Globus jagt. Dem Kino, bei dem die Action im Mittelpunkt steht und die meiste Zeit und Aufmerksamkeit des Filmemachens in großartige Sets und Stunts gesteckt wird. Dem Kino, bei dem oft gar keine Zeit für einen Moment unter der Sonne oder die anderen Gäste am Strand bleibt, weil es schlichtweg „Wichtigeres“ gibt. Aber was „wichtig“ ist, ist nun mal relativ. Relativ zu dem Blick. Wer sich für Beziehungen interessiert und für die kleinen Momente, die ganze Biografien erzählen und ins Wanken bringen können, für den ist „Aftersun“ ein Meisterwerk, bei dem alles stimmt. Die Kameraarbeit, die so kreativ wie genial erzählerisch eingesetzt wird – zum Beispiel wenn sie auf ein langsam erscheinendes Polaroid hält, während wir die Stimmen von Sophie und Calum weiter hören –, die Musik, die sich unterstützend einfügt, die gesprochenen und nicht gesprochenen Dialoge des Drehbuchs und nicht zuletzt die beiden Hauptdarsteller:innen Frankie Corio und Paul Mescal, die so gut spielen, dass man das Gefühl hat, eingeladen zu werden, in das Leben von einer Tochter und ihrem Vater.
Der Film „Aftersun“ ist die Einladung einer großen Künstlerin, Charlotte Wells, in ihre und damit auch in die uns eigene Welt. Liebevoll erzählt sie die intime Geschichte zweier Menschen und berührt durch das Besondere das Allgemeine: Kann ich als Mensch, ja zu mir sagen? Kann ich annehmen, zu lieben und geliebt zu werden?
Jannik Howind, Hannover 23.12.2022