Everything, Everywhere All at Once
Everything Everywhere All at Once (2022)
Drehbuch und Regie: Daniel Kwan & Daniel Schubert
Evelyn sitzt in einem vollgestellten Raum vor einem Stapel von Rechnungsbelegen für die Abgabe der Steuererklärung. Nebenan drehen sich unzählige Waschmaschinen. Ausdruck des täglichen Geschäfts eines Waschsalons. Dazu, der gerade zurückgekehrte senile Vater, merklich Teil einer anderen Generation, die lesbische Tochter Joy, die ihrem Großvater ihre Freundin vorstellen will und der liebevolle Ehemann Waymond, der erfolglos ein wichtiges Gespräch mit ihr sucht. Bereits in diesen ersten zwei Minuten reißt der Film Themen und eine Beziehungsdynamik an, deren Reflektion für diesen Text zu viel wäre.
Überforderung. Das ist der Ausgangspunkt dieser Kritik nach einem Filmerlebnis, das im positiven Sinne zu viel war.
Überforderung. Das ist der Ausgangspunkt des modernen Menschen, der erkannt hat, dass es keine göttliche Ordnung gibt, die ihm sagt, was zu tun ist, der erkannt hat, dass er nur ein kleiner Teil in einem großen Universum ist und der spürt, dass er letztlich auf sich zurückgeworfen ist. Jede Entscheidung eröffnet einen neuen Weg, aber schließt auch eine Unendlichkeit an anderen möglichen Wegen aus.
Aber, Überforderung das ist auch der Ausgangspunkt dieses Films. Evelyn ist in Gedanken überall, nur nicht dort, wo sie sich gerade physisch befindet. Warum gerade sie von der Bevölkerung des Alphauniversums – einem Paralleluniversum – ausgewählt wird, um die Welt vor der Chaosbringerin zu retten? Der Film beantwortet es auf kreative aber in sich schlüssige Art und Weise. Kreativität bei gleichzeitiger Stringenz der eigenen Prämissen zeichnet jedes gute Werk aus. Ich wage zu behaupten: Die Leistung von „Everything Everywhere All at Once“ übertrifft sie alle. Das liegt an den Prämissen dieses Films, an die sich in dieser Kombination noch keiner vor den beiden Regisseuren Daniel Kwan und Daniel Scheinert gewagt hat: Der Mensch, dessen Schrei nach Sinn in einer kontingenten Welt keine Antwort findet gepaart mit der Idee eines Multiversums, verstanden als Summe aller Parallelwelten. Parallelwelten sind philosophisch als hypothetische Welten zu verstehen. Was wäre passiert, wenn ich damals nicht in den Zug nach Lissabon gestiegen wäre? Wie hätte sich mein Leben entwickelt? Jede Entscheidung, schafft eine neue Parallelwelt. Die physikalische Annahme eines Multiversums bedeutet schlicht die Akzeptanz der ebenbürtigen Realität all dieser Welten. Was als Grundlage für Science-Fiction Horror dienen könnte – und das tut es in dem Film abgeschwächt auch – wird von den Daniels jedoch vor allem genutzt, um ein Festival aus Situationskomik, witzigen Dialogen und den lustigsten Bildern seit Filmen wie „Die nackte Kanone“ zu kreieren. Aber die Idee wird genauso genutzt, um das kontingente – alles könnte auch anders sein – Lebensgefühl des modernen Menschen zu transportieren, bestehend aus Sinnfragen, verpassten Chancen, radikaler Ratlosigkeit, was nun eigentlich erlaubt ist und was nicht usw. Aber man will hier keine ernste und zerstörerische Kritik der menschlichen Existenz und modernen Gesellschaft liefern. Ernst wird gepaart mit Hoffnung. Zerstörung mit Liebe. Schwere mit Leichtigkeit. Der Film schafft eine Bewegung zwischen Gegensätzen, die so extrem sind, dass sie als einzelne Universen bezeichnet werden können. Filmgenres, deren gute Umsetzung für sich eine Kunst ist, werden in einen Film geworfen, genauso wie Theorien und Begriffe deren Verständnis allein mehrere Jahre an Studium erfordern kann. Der Film wechselt zwischen all diesen Universen im wahrsten Sinne des Wortes als wäre es nichts. Zumindest bleibt einem beim Schauen gar nicht die Zeit irgendwelche Unstimmigkeiten zu entdecken, sofern es sie denn gibt. Ich wurde einfach mitgerissen.
Auf den ersten Eindruck überwiegt ein großartiges Setdesign von Schauplätzen, die teilweise nur Sekunden zu sehen sind und es besticht das überragende Schauspiel von Michelle Yeoh (Evelyn), Jonathan Ke Quang (Waymond) und Stephanie Hsu (Joy), die geschmeidig zwischen den teilweise vollkommen unterschiedlichen Versionen ihrer Selbst wechseln. Die Choreografie der Action, die in dem Film nicht zu kurz kommt, macht Spaß und der Soundtrack weiß sich in die Themen der jeweiligen Szenen unterstützend einzuflechten. Beispielsweise begleitet die Musik gekonnt die Stimmung bei der Geschichte von zwei Steinen, die ein Gespräch miteinander führen. Ja, der Film ist positiv verrückt! Künstlerisch muss an dieser Stelle auf das hervorragende Timing in jeder Szene sowie dem Rhythmus der übergreifenden Erzählung als Ganzer hingewiesen werden. Was bis hierhin für die Leserin vielleicht überfordernd erscheinen mag, ist es im Kinosaal nämlich nicht. Die Daniels weben die Fülle an Themen und Stimmungen so ineinander, dass die Zuschauerin in fein abgestimmten Dosen mit Fragen der eigenen Existenz, komischen bis strapazierenden Bildern, Alltags- und Familiendramen und Momenten expliziter Action konfrontiert wird, die sich gegenseitig davor begrenzen, zu viel zu werden. Man muss nicht intellektuell hellwach sein, um diesen Film zu genießen, man muss nicht komplett abgehärtet sein, um sich wohlzufühlen. Ich behaupte, dem Film gelingt es, ein Maß zu halten, sodass er für alle zugänglich wird. Daniel Kwan und Daniel Schubert haben es geschafft, das Unwahrscheinliche möglich zu machen. Ihr Film ist Everything Everywhere All at Once.
Jannik Howind, Wiiten 1. Mai 2022