Die Erschaffung des Ich
Inspiriert durch die Auseinandersetzung mit Gregory Bateson und Maurice Merlea-Ponty.
Ein geisteswissenschaftliches Studium erfordert viel Bewegung in Abstraktionen. Überhaupt beschäftigen sich die meisten Tätigkeiten, denen wir heute in produktivitätsorientierten Gesellschaften wie Deutschland nachgehen, mit solchen Ideensystemen. Wir bauen sie auf, um die Buchhaltung zu machen, um unsere Zusammenarbeit zu koordinieren, um die Pizza mit Hilfe von Google Maps pünktlich in die Kreuzberger Straße zu liefern und vieles mehr. Abstraktionen sind Navigationskarten, auf denen Unterschiede eingezeichnet sind und je nach Kartentyp weiter eingezeichnet werden können. Im Ursprung steht jedoch unser Strom der Erfahrung durch unseres leibliches In-der-Welt-sein. Zuerst atmen wir, dann denken wir und wir können nur so lange denken, wie wir atmen können.
Das Denken beruht auf Identität und Differenz bzw. auf der Tätigkeit des Differenzierens und Gleichsetzens. Das meint im Ursprung nicht objektiv vorhandene Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen, sondern sie durch den Akt der Erkenntnis überhaupt erst zu schaffen. Aus der ursprünglichen Erfahrung kann der Mensch ein Wir (d. h. aus der heutigen, individualistischen Perspektive eine In-eins-Setzung) mit der Natur machen, mit bestimmten anderen Menschen, mit den Grenzen seiner Haut oder nur mit den Grenzen seines Denkens. Eine Erkenntnis ist immer eine Entzweiung und eine Verbindung. Mit jedem Wir wird ein Nicht-Wir geschaffen, mit jedem Ich ein Nicht-Ich, eine Welt. Aber es wird auch eine übergreifende Einheit der beiden geschaffen. Eine Alleinheit, die z. B. Wir und Nicht-Wir verbindet. Oder anders gesagt: jede Differenz wird aus einer Alleinheit geschaffen. Lassen wir diesen Gedanken weg, so gehen wir von der Annahme aus, dass das Wir und Nicht-Wir, dass das Ich und das Du nicht in einer Beziehung zueinanderstehen.[1] Da wir das Wir und das Nicht-Wir aufbauend auf dem Strom der Erfahrung gebildet haben, wäre diese Annahme nicht haltbar. Strom der Erfahrung bedeutet das Werden von allen Dingen. Werden bedeutet Unvollkommenheit. Werden bedeutet Freiheit. Werden bedeutet das Erschaffen der Welt durch sich selbst. Wenn wir in diesen Prozess hinein ein Wir und ein Nicht-Wir denken, dann müssen wir davon ausgehen, dass sie miteinander in Beziehung stehen. Das Wir wird relativ zum Nicht-Wir.
Ich bewege mich in Abstraktionen und würde ich mich nicht in Abstraktionen bewegen, so würde ich mich gar nicht bewegen. Sobald der Mensch „Ich“ denkt und sagt, bewegt er sich bereits in einer Abstraktion relativ zum Ursprungszustand des Stroms der Erfahrung, dem unpersönlichen Teil-Seins des universellen Werdens. Ich erschaffe „mich“, indem ich so tue, als ob es mich gibt. Wenn ich fortan ein Leben lang an dieser Abstraktion festhalte, dann entsteht die Biographie einer Person.
[1] Das würde bedeuten, dass die Frage, wie sie sich zueinander verhalten, nicht gestellt werden kann. Wenn wir nur fragen, was etwas seiner Natur nach ist, so ist es natürlich herzlich egal, wie es sich zu etwas anderem verhält.
Jannik Howind, Roskilde September 2022