Turbokapitalismus

Turbokapitalismus auf individueller Ebene funktioniert, wenn ich ausklammere, dass ich viele weitere menschliche Bedürfnisse habe, deren Beachtung viel Arbeit bedeutet. Ein gesundes Verhältnis zum eigenen Wohnort führen, die Beziehung zur eigenen Vergangenheit und Zukunft in einem Lot halten, das sich gut anfühlt. Immer wieder öffnen sich neue Räume, die ich mit besonderen Erfahrungen füllen kann, aber welche und mit wem? Und wie viele Pläne und wie viele Nicht-Pläne halte ich aus? Immer wieder schließen sich alte Räume, die besondere Erfahrungen für mich einfangen, aber was genau bedeuten sie für mich? Wie war der letzte Urlaub von uns für mich? Nicht jede Erfahrung muss aufgearbeitet werden, aber auch nicht keine.

Der heutige Produktivitätszwang wirkt auf mich nicht mehr authentisch. Wir leben nicht in einer Nachkriegszeit oder großen Depression, wo viel angepackt werden muss, um das Überleben zu sichern, um ein Leben zu retten oder wieder aufzubauen. Wir haben Zeit. Nicht Zeit, um noch mehr zu konsumieren, um noch mehr Hitze freizusetzen. Wir haben Zeit, um sanft mit uns und der Welt umzugehen. Ich muss nichts werden. Ich muss nicht jeden Tag meine Karriere planen, um mein Überleben zu sichern. Mein Überleben ist gesichert, oder wenn es nicht gesichert ist, so weiß gerade keiner genau an welcher Stelle die Sicherung locker geworden ist und in ein paar Jahrzehnten zuschlagen wird. Der Zwangsgedanke: »Aus mir muss etwas werden« fühlt sich nicht mehr stimmig an. Der äußerliche Druck ist weggefallen, aber wir haben ihn so sehr verinnerlicht, dass er immer noch da ist. Nun kommt von außen kein Druck mehr, sondern ein Aufschrei. Ein Ruf um Hilfe und Beachtung. Die Natur stöhnt und die Menschen verkümmern in Einsamkeit. Das Zeitalter der Hyperproduktivität wandelt sich in ein Zeitalter der Fürsorge. Mischformen sind monströs aber im Übergang auszuhalten. Ich muss beides schaffen. Arbeit und Fürsorge. Karriere im Großen und viel Achtsamkeit im Kleinen. Oder: Ich muss fürsorglich arbeiten oder im Modus der Hyperproduktivität Fürsorge betreiben und alle Fähigkeiten lernen, die ich dafür brauche. Nein, Turbokapitalismus und Fürsorge sind zwei unterschiedliche Lebensformen, die auch im eigenen Leben entsprechend getrennt werden. Sie erfordern zeitlich nicht gleichzeitig mögliche Qualitäten des Ausdrucks. Schnelligkeit und möglichst viel auf einmal auf der einen und tiefe Achtsamkeit auf eine Sache auf der anderen Seite.

Jannik Howind, Witten Juni 2022

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