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Vorab

Omnibus für Direkte Demokratie. Den weißen Omnibus und seinen jahrzentelangen Busfahrer und Begleiter Werner durfte ich im Frühjahr 2024 kennenlernen. Die Bürgerinitiative und gemeinnützige Unternehmung geht auf die Auseinandersetzung mit der direkten demokratie von Joseph Beuys und seiner Idee der sozialen Plastik zurück. Nach dieser Idee ist die Gesellschaft ein Prozess, für den wir alle mit unseren Fähigkeiten verantwortlich sind. Die direkte demokratie ist das gesellschaftliche Entscheidungsinstrument, das dieser Idee entspricht. Brigitte Krenkers hatte 1986 den Traum, mit einem Bus durch Deutschland zu fahren, das Thema so an die Menschen heranzutragen und Unterschriften für die Umsetzung der direkten demokratie durch Abstimmungsgesetze zu sammeln. 1987 ging es mit dem blauen Bus los. Mittlerweile im Ruhestand lagern 1,3 Millionen Unterschriften für die bundesweite Volksabstimmung in ihm. Nach dem Überwinden anfänglicher Vorurteile über die direkte demokratie war für mich die Entscheidung, im Mai das erste mal mitzufahren, eine klare und leichte.
Wer mehr von den täglichen Abenteuern des Omnibus mitbekommen will, kann das auf Werners Blog er-fahrungen.org tun.
Und wer mehr zu den bereits bestehenden Abstimmungsgesetzen und praktischen Erfahrungen von Volksabstimmungen auf Bundesland und Gemeindeebene oder international wissen will, wird beim Verein mehr-demokratie e.V. fündig.


13. LENGERICH mai

20:57. Lengerich. An einem kleinen Bahnhof am Rande der längs verlaufenen Stadt. Letzte Wolken verfliegen im knallgelben Abendlicht. Der Omnibus steht im Stadtzentrum. Soeben erfuhr ich, dass unweit vom Bus eine Gemüsebowl auf mich wartet. 33 min Fußweg. Ich schaue mich vor dem Bahnhof nach einem Taxi um, aber dort, wo sie normalerweise stehen würden, stehen normale PKWs. In das vorderste steigt eine junge Frau. Ich frage nach den Taxis – die Fahrerin verneint –, ob sie ins Stadtzentrum fahren? – ebenfalls Nein, schönen Tag noch –, den Blick schon abgewandt. Mir rutscht ein „schade“ raus. Mal wieder kommt Kant um die Ecke und ermahnt mich, ob meiner Haltung, das Auto und die Fahrerin nur als Mittel für meinen Zweck, möglichst schnell zu meinem Essen und den anderen zu kommen, betrachtet zu haben. Ich gelobe Besserung: Bei weiblichen Menschen will ich mir bewusst sein, dass sie sich schneller bedroht fühlen könnten, oder bereits doofe Erfahrungen mit Männern gemacht haben und „kannst du dir vorstellen, mich ein Stück mitzunehmen?“ scheint mir die stimmigere Einstiegsfrage als, fahren Sie dahin, wo ich hinwill. Bevor ich zu viel Zeit verliere, laufe ich los und beginne meinen Daumen rauszuhalten. Es ist nach den letzten Nächten im Hotel und dem Anleiten eines Workshops wie das Umlegen eines Schalters. Nicht mehr alles hinterhergebracht bekommen und orientierungssuchend angeschaut werden, sondern bodenständig auf Menschen zugehen und schauen, wo ich mit einfachen Mitteln lande. Sei es zu Fuß oder eben durch Fragen.

10 min später an der Hauptstraße gibt ein älterer Vater (oder Opa) mit seinen fast ausgewachsenen Kindern im Auto ein Handzeichen, hält aber nicht am Busstreifen wenige Meter weiter rechts, wie von mir erwartet, sondern fährt weiter, dann leuchten die Rücklichter auf, er bremst und wendet in 150 Meter Entfernung an der Kreuzung. Kurz vor dem Busstreifen treffen wir uns an einer breiten Auffahrt. Wo ich hin will? Ins Stadtzentrum – Gräfin Anna heißt das Restaurant – Steig ein!

Er freut sich, dass noch jemand trampt, wie in seiner Jugend, das mache ja jetzt keiner mehr. Sofort entbrennt eine Diskussion, warum das so sei zwischen ihm und seinem Sohn auf den Vordersitzen. Dann das Deutsche-Bahn-Thema, weil ich erzähle, dass ich eine Stunde Verspätung hatte und deshalb gerade mein Essen kalt wird.

Ein Gutes hat es ja, dass die Bahn bei ihrem Versuch, die Menschen quer durch Deutschland zu verbinden, einen so schlechten Job macht, dass gerade diese Tatsache im Gespräch alle Menschen quer durch Deutschland verbindet. Vielleicht ist es tatsächlich das einzige Thema, das das noch vermag.

Kurze Zeit später sind wir da. Erst fällt mir über den Pflastersteinen der üppige Dorfkranz auf, dann erblicke ich zwischen kräftigen Bäumen, Kirchgemäuer und einem Torbogen den weißen Omnibus mit goldener Dachkrempe. Für direkte Demokratie? Gute Sache, vielleicht komme er die Tage vorbei, meint der Mensch, der mich mitgenommen hat. Wir verabschieden uns.

Im seichten Abendwind laufe ich beherzt auf das Restaurant und den Omnibus zu.

20. NACH SCHLOSS HAMBORN mai

Nach einem gemeinsamen Höhenflug komme ich langsam zur Landung. Das Unverhoffte hat stattgefunden. Schlag auf Schlag nahmen wir und auch ich im Wir Geschwindigkeit auf, Zutrauen entstand und Entscheidungsfreude bei gleichzeitigem Verlust für das Drumherum, also für meine alltäglichen, größeren Fragen und für die Menschen, die gerade nicht in dieser grünen Bildungsoase mit mir waren. Und dieser große Fokus auf den Moment, das Mitbekommen so vieler schöner und herzlicher Zufälle, die irgendwo keine Zufälle sind, weil das Festival durch seinen Aufbau und seine Art bestimmte Menschen angezogen hat, die gerade mit ähnlichen Fragen und mit ähnlichen Begriffen und Wahrnehmungen unterwegs sind, dieser große Fokus auf diesen langgezogenen Moment von drei Tagen, wo sich soviel gegenseitig stützte, wo sich Geist im anderen wiedererkannte, diese tiefe Aufmerksamkeit führte zu einem beinahe rauschhaften Zustand, der gepaart mit Gedanken von Schicksal drohte, in etwas überirdisches Abzudriften. Überirdisch in dem Sinne, dass ich den anderen Menschen nicht zuerst als physischen einzigartigen Körper, sondern als Geist und Seele, die ich auf ihrem Weg und in ihrer Kraft sind, wahrnehme, und denen ich helfen kann oder die mir Hilfe zuteilwerden lassen können, genau im richtigen Moment. Diese eigentlich schöne Erfahrung wird wahnhaft, wenn sie sich mit einer bestimmten Vorstellung des eigenen Schicksals vermischt, die einem durch eigene Gedanken und Zeichen oder von außen untergeschoben wird. Sich gegen diese Unterschiebungen abzugrenzen, nenne ich innere Abgrenzung. Sie ist nötig in Bezug auf das eigene Leben, den eigenen Willen und das eigene Ich als Ganzes, das immer ein zu werdendes und in seiner Form völlig einzigartig zu greifendes und gestaltendes ist. Die innere Abgrenzung ist z. B. nötig in Bezug auf eine entstehende Verbindung mit einem Menschen, in der man selbst oder andere von außen anfangen eine bestimmte Vorstellung zu sehen, z. B. eine romantische Beziehung. Diese Vorstellung kann sich dahingehend steigern, dass man auch die Handlungen und Gedanken des anderen Menschen, den man kennenlernen will, in diese Richtung deutet, nach entsprechenden Zeichen sucht und diese bestätigt findet. Das passiert zwangsweise, weil, wer mit Nachdruck sucht, auch unbedingt findet.

Es gibt so viele Zeichen und Ideen in dieser reizüberfluteten Welt. Sich gegen diese sinnlichen Reiz- und Erfahrungsfluten und auch Entscheidungsfluten abzugrenzen, nenne ich äußere Abgrenzung. Jetzt klingt Abgrenzung in manchen Ohren so negativ und das ist sie auch, wenn sie sich nur gegen etwas richtet und kein tieferes Ja dahintersteht, das die innere oder äußere Abgrenzung notwendig macht. Dieses innere Ja ist zuerst das Ja zu meinem ganz eigenen Weg, den ich tastend finde und mit Mut und Umsicht baue, aber eben auch zu den ganz eigenen Wegen all der anderen. Die höhere Orientierung ist dabei letztlich Freude, weil dieses Suchen und Versuchen und Bauen und Erfahren verdammt Spaß machen kann und umso mehr, je besser ich darin werde. Diese Freude kann ich nur empfinden, weil ich körperlich in der Welt bin, und so dienen all die unverhofften, schönen Begegnungen nicht einem höheren Zweck, sondern dem Zweck, der eben lautet: Freude haben an der Erfahrung, welcher Art sie auch sei.

Nun geht es weiter mit dem Omnibus für direkte Demokratie und der Frage, die Schwelle zum freien Erwachsensein zu gestalten.

 

Eine letzte Erkenntnis: Es kommt im Leben nicht darauf an, Zertifikate zu bekommen, große Jobs oder Stipendien bekommen zu haben. Es kommt darauf an, sich ernsthaft als einen Mensch zu begreifen, mit dem andere Menschen zusammenwirken können, wenn sie wollen und es kommt darauf an, andere Menschen ernsthaft als Menschen zu begreifen, mit denen ich zusammenwirken kann, wenn ich will. Die Konsequenz aus diesem Gedanken ist der Versuch, die Menschen zu finden, die gerade mit mir zusammenwirken wollen und mit denen ich gerade zusammenwirken will. Der Gedanke von Vorsprung und Nachsprung gegenüber anderen, von Ich oder Du wird aufgegeben. Nächster Schritt: Den Gedanken von Ich und Du als Denk-, Mund- und als Handwerk weiter üben. Und vor allem die Frage dahinter weiter üben und die Schönheit des Nein, ich will gerade nicht mit dir zusammenwirken, oder des Ja, ich will, spüren.

 

Äußere Achtsamkeit zur Aufrechterhaltung einer Idee, die scheint

 

Der Omnibus für direkte Demokratie ist mit Beuys als soziales kunstwerk zu begreifen. Der weiße Bus mit goldenem Gürtel selbst präsentiert sich auf der Straße in klarer Form inhaltlich und der direkten Begegnung und Erfahrung mit ihm dienend. Wir Bandmitglieder präsentieren uns wachsam und kontaktfreudig ohne aufdringlich zu sein. Die Menschen müssen schon neugierig und wenigstens ein kleines bisschen mutig sein, damit ein ernsthaftes Gespräch entstehen kann. Die weißen Tische vor dem Omnibus sind genaustens platziert. Der hohe runde vor dem großen runden, hinteren Rad, der niedrige Runde vor einem Halbkreis aus vier weißen Stühlen mittig vor dem Schriftlaut „Volksabstimmung“. Sobald Menschen anfangen, Dinge rumliegen zu lassen, Stühle zu verrücken oder ähnliches, muss eingegriffen werden, wenn die Wirkung, der Schein, der eben nicht bloß Idee, sondern Erfahrung und sinnliche Einladung ist, nicht verkümmern soll. Äußere Achtsamkeit.

Der Omnibus ist kein Konsumobjekt. Menschen, die wie selbstverständlich besitzergreifend in ihn hineinstürmen, werden von uns zurechtgewiesen, in ihrem Tempo gedrosselt oder freundlich hinausgebeten, weil wir gerade nicht kontaktbereit sind.

Am und mit dem Omnibus kann ich lernen, was es heißt, auf seine Würde zu achten, die eben auch nicht bloß Idee, sondern Wirkung, Schein und sinnliche Erfahrung ist. Auf seine Würde zu achten, heißt mit Immanuel Kant, darauf zu achten, dass andere Menschen einen nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck an sich betrachten. Als Wesen, dessen freie Einladung und Entscheidung gegenüber anderen mit ihm zusammenzuwirken keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk ist. Gleiches gilt für meine Betrachtung anderer. Auch ich entwürdige mich, wenn ich andere nur als Mittel zum Zweck betrachte, bspw. um ihre Fördergelder oder Unterschrift für unsere Unternehmung einzuheimsen.

Was ich täglich durch mein Mit-Sein am Omnibus üben kann, ist die Aufrechterhaltung der menschlichen und nicht-menschlichen Würde, die Aufrechterhaltung dieser kunstvollen Wunder, die doch nicht Magie, sondern konkrete Aufmerksamkeit und wachsame Praxis sind. Die Würde des Omnibus ist von seinen menschlichen Mitgliedern abhängig, die ihn gestärkt losschicken und gegen Verkümmerung abgrenzen. Meine Würde liegt hingegen ganz in meiner Kraft, weil ich mich stärken kann, sei es durch Nahrung und Schlaf, weil ich mich in die Nähe von Menschen begeben kann, die mich sehen und unterstützen und weil ich mich aus eigener Kraft gegen Versuche, mich zu be-mitteln, wehren kann. Erst heute wurde ich gefragt, ob ich mich gegen die Chance, etwas zu gewinnen, für ein Werbevideo mit einer Silberkette ablichten lasse. Ich lehnte ab. Wenige Sekunden später kam ein am Omnibus Interessierter Mensch und die Situation mit der Silberkette war vergessen. Meine Würde und die Würde des Omnibus wurden einen weiteren Moment aufrechterhalten.

Eine Szene so undurchdringlich und dann doch erschreckend deutlich, dass sie sich tief in meinen Magen gegraben hat. Auf Sendung vor dem Omnibus sehe ich einen großgewachsenen Mann um die 55 mit übergewichtigen, wuchtigen Körper, eng neben einer Frau laufend, die geradeso zu alt gewesen zu sein scheint, um seine Tochter zu sein. Die Hände sind ein Gemenge mittig vor den beiden Körpern, welche eng nebeneinander relativ langsam vorankommen. Er läuft unrund, als hätte er etwas an der Hüfte, beide wirken sie, als ob etwas los sei. Beim Laufen nimmt er ihre Hände und hilft ihr, eine weiße Plastiktüte, gerade so groß, wie wenn man im Supermarkt ein Pfund Pilze kauft, von der rechten Hand in ihre linke Hand zu bekommen. Warum sie das nicht selbst kann? Sie wirkt verängstigt. Etwas scheint mir ungewöhnlich und je nachdem, wie ich auf die Situation schaue, gar nicht gut. Ein Mensch kommt auf mich zu, die beiden geraten mir kurz aus dem Blick. Mittlerweile sind sie an der Busspitze vorbei, einen Halbkreis um die Altstadt beschreiben. Ich schaue ihnen nach, werde aber durch einen begeisterten älteren Herren angesprochen, der vorhin lange mit uns gesprochen hatte und diesmal aber schnell merkt, dass er nicht viel von meiner Aufmerksamkeit bekommt. Der Mann mit Halbglatze und braun-grauen kurzen Haar hat ihre nun freie rechte Hand hinter seinen Rücken gelegt und hält sie fest am Handgelenk. So erscheint es mir aus zehn Metern. Sein linker Arm ist über ihre Schulter gelegt, abgelegt wie auf der Lehne eines Sessels. So stark ist der Größenunterschied. Der Wille in mir wird vehement stärker, sie zur Rede zu stellen und gleichzeitig schwindet die Gelegenheit. Ich bin überfordert in meinem Urteil und von der Notwendigkeit schnell zu handeln, habe solch eine Situation noch nie erlebt. In den Omnibus gesprungen frage ich Werner, was er zu den beiden denkt, aber ihm fällt es schwer, sie in zunehmender Ferne zu identifizieren. Der Eindruck lässt mich nicht los. Sicher sein kann ich mir nicht, das hier gerade etwas Unfassbares geschieht. Wieso nimmt sonst niemand etwas wahr, bleibt stehen, reibt sich die Augen? Sicher sein, dass alles mit rechten Dingen und freien Willen vorgeht, kann ich mir auch nicht. Zu ungewöhnlich scheint dieses Paar von Menschen, zu irritierend der verstörte, ja verängstigte? Gesichtsausdruck der Frau, die anderthalb Köpfe kleiner als er und mit hellerem, leicht gewelltem schulterlangen Haar ihr Gesicht für meine Augen schwerer identifizierbar machte. Wie würde jemand vorgehen, der jemanden in der Öffentlichkeit gewaltsam mitnehmen will? Wohl genau so denke ich. So, dass es wie ein vertrautes Paar scheint, aber ein vertrauter Mensch würde nicht den Arm des Partners hinter seinem Rücken festhalten müssen. Wieso macht die Frau nichts? Vielleicht, weil sie unter Schock steht, ihr Wille überrumpelt und verängstigt aus der Ferne zu schaut.

Ein paar Minuten später fahre ich mit dem Fahrrad den Weg hinterher aber finde sie nicht mehr. Ich habe den Antrieb gebraucht, gleich etwas mit dem Fahrrad einzukaufen, um den Mut aufzubringen, es versuchen, die beiden noch zu finden. Trost für mein Gewissen ist, dass jedes Mal, wenn ich seitdem an den Eindruck denke, ich glauben (muss), dass ich nicht der einzige wahrnehmende, handlungsfähige Mensch auf der Welt bin und dass ich mich vielleicht doch getäuscht habe, und alles mit rechten Dingen zuging. Mein Bauchgefühl meldet sich und sagt etwas anderes. Und dennoch, ich muss glauben, dass es Menschen gibt, die in solch einer Situation handlungsfähig sind und denen sie noch begegnet sein könnten. Ich kann mir nicht sicher sein, dass sich die Situation zum Guten gelöst hat, genauso kann ich mir nicht sicher sein, dass sie sich nicht zum Guten gewendet hat. Glaube vermischt sich mit Verantwortung. Etwas tun, damit es mir nicht vollkommen den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich weiß, dass ich in den wenigen Stunden, die ich noch in Bielefeld bin, zur Polizei gehen muss, um den Eindruck zu schildern und meine Personalien zu hinterlassen und um mir selbst Hilfe zu holen durch den Ratschlag, was sie getan hätten in der Situation. Zum Glück ist die Wache in einer Minute zu erreichen. Ich tue es. Die Polizisten sind verständnisvoll, ob der Überforderung der Situation, schätzen sie ähnlich verdächtig ein, raten beim nächsten Mal, sofort die Polizei zu holen und nehmen meine Beschreibungen und meine Kontaktdaten auf. Das war, was ich heute tun konnte und was ich heute nicht tun konnte. Der Eindruck und das mulmige Gefühl bleiben.

Auf dem alten Marktplatz vor dem Rathaus. Links thront eine große Kirche. Martin Luther predigte hier einst.

Man hilft uns im Bürgerbüro auf Anfrage mit Stadtplänen, Toiletten und Leitungswasser. Ob sie Information über direkte Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern hätten. Ich werde ins Sekretariat geschickt. Ich komme aus zwei Wochen Urlaub und kann Ihnen nicht helfen. Ich werde ins Hauptamt geschickt. Es ist kurz vor 9:30, sodass ich keine Zeit habe, weil um halb die Gespräch-, Unterschriften- und Fördererfindenarbeit für den Omnibus beginnt.

Ich nehme mir vor, fortan in jeder Stadt nach den Gesetzen für direkte politische Beteiligung auf Gemeinde- und Bundeslandebene beim Bürgerbüro zu fragen. Diese Regelungen zu kennen, ist die Voraussetzung, um sie zu nutzen. Wenn sie nicht im Bürgerbüro und Rathaus niedrigschwellig ausliegen, dann ist das ein Skandal.

In den folgenden Gesprächen – und das Interesse an uns in Thüringen war groß – frage ich immer wieder danach, ob die Menschen von diesen Möglichkeiten wissen. Manche kennen tatsächlich manche Quoren – konkret gemeint sind die Mindestanzahl benötigter Unterschriften beim Antrag eines Bürgerbegehrens oder beim Schritt der Volksinitiative (Unterschriftenquorum) oder die Mindestanzahl von Ja-Stimmen bei der Abstimmung des Gesetzesentwurfes (Zustimmungsquorum). Wirklich kennen tut sie keiner.

In meinen Gesprächen dreht es sich zu 90 % darum, dass es ja schön wäre, wenn es die Volksabstimmung gäbe, aber sie entweder zu wenig genutzt werden würde oder für die falschen Themen oder zu falschen Ergebnissen führen und dass alles sowieso zu lange dauern würde. Einige Menschen bringen mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Wir kommen ins Denken und stellen Demokratiebildung als Voraussetzung für gelungene Volksabstimmungen und für das Verständnis und die Wertschätzung eines intakten, demokratischen Miteinanders fest. Eigentlich sei die Familie der Ort dafür. Eine intakte Familie bezeichnet G. dies. Wir denken weiter. Erzieher:innen und Lehrer:innenausbildungen sind weitere Voraussetzungen, denn einen demokratischen Umgang, eine demokratische Entscheidungsfindung anleitend zu unterstützen, braucht zum einen die Selbsterfahrung und zum anderen initiierende Übung damit. Und zudem wäre es wichtig, in der Stadt und Öffentlichkeit solch moderierte Gesprächsräume zu haben, generell, vor Wahlen oder zur Themenfindung von Bürgerbegehren oder Volksabstimmungen. Schnell kommt bei meinem Gegenüber wieder die Resignation dazu. Wer würde das denn machen wollen? Die Stelle müsste geschaffen werden, denke und sage ich. Die Menschen, die das machen wollen würden, lerne ich in Gruppen politischer Bildner:innen und in meinem Studium gerade kennen. Ich kann mich selbst dazu zählen. Das wird aber schnell zum Vollzeitjob. Drum sollte es auch eine Stelle und nicht Ehrenamt sein. Aber ob dies mit der Vollzeitarbeit notwendig so sei, ist dahingestellt. Mit mehr Zeit lässt sich die Frequenz der Treffen und die Vielfalt der Ausrichtungen – Gesetzesaufklärung, Gesetzesabstimmungsberatung, Themenfindung für Bürgerentscheide oder einfach informeller Austausch mit seinen Mitbürger:innen unterschiedlichen Alters, Gesetzesentwurf-Ausarbeitung usw. – erhöhen. Nur eines wäre wichtig: Es ginge bei all diesen Treffen um die Menschen, die dann noch Bürger eines Ortes sind, und um konkrete Sachfragen. Das heißt, dass sie sich zu diesem Ort zugehörig und für ihn und seine Weiterentwicklung und Aufrechterhaltung verantwortlich fühlen, im Sinne eines friedvollen Miteinanders mit allen anderen, deren Recht es genauso ist, dort zu leben und immer wieder ihr Glück zu finden. Es ginge bei den Treffen um die Menschen, die einander kennenlernen und ihr gemeinsames Lebensumfeld gestalten wollen, es ginge nicht um Parteien und Machtverteilung. Es ginge darum, konkrete Erfahrungen und Gestaltungsvorschläge zu verhandeln und nicht Zugehörigkeiten und Entscheidungsbefugnisse. So denke ich weiter, während der Herr neben mir wieder resigniert. Fast jedes Gespräch endet mit der Resignation, wobei auch mit Hoffnung und für manche mit dem Gefühl, etwas getan zu haben, durch ihre Unterschrift oder die Einwilligung, in ein paar Wochen noch einmal darauf angesprochen zu werden, ob sie den Omnibus finanziell fördern wollen.

Als jemand, der das Denken und das Ziehen von Schlüssen liebt, stelle ich allerdings fest, dass es um diese Praxis des Denkens und der Zuversicht so arm bestellt ist, dass ich mir ein größeres Blasebalg besorgen will, um all die Skepsis, die so schnell auftaucht, wegzublasen. Denn es ist eine Skepsis, die sich aus einem Menschenbild zieht, dass antithetisch zu Rutger Bregmans Buchtitel „Im grunde gut“ „Im grunde schlecht“ lautet. Diese Voraussetzung führt dazu, nichts versuchen zu wollen. Den Gedanken, dass sie nichts versuchen wollen, widerlegen diese Menschen in der Praxis direkt selbst. Denn schon der Schritt auf uns und den Omnibus zu ist ein Moment der Neugierde und des Mutes. Wir rennen niemandem hinterher, wer kein Interesse zeigt, wird weitergegangen gelassen. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen etwas versuchen. Sie wollen versuchen, zu verstehen, was wir machen oder wer wir sind oder was direkte demokratie ist oder was für eine volksabstimmung wir machen oder sie wollen versuchen, einen Blick ins Innere des Busses zu bekommen. Damit gehen sie davon aus, dass der Mensch, in dem Fall wir, im grunde gut sind, dass man ihm neugierig begegnen kann und dass es möglich ist, mit uns in ein Gespräch zu kommen. Sie gehen davon aus, dass ein Austausch und eine neue Erfahrung möglich ist, die wiederum etwas bewegen kann. Das sind wahrlich meist nur kleine Funken. Gestern erfasste der Wind einige von ihnen und mehrere Dutzend Euro wurden spontan in unsere Spendenbox geweht. Ein Mann mit einem Jungen, auf den er für eine Freundin aufpasste, gab uns zudem ein Eis und Cappucchino aus. Sie waren die ersten, die Sonntagabend auf uns gestoßen waren, als wir uns still und ruhig auf dem Platz niederließen. Weil wir am Ankommen waren, dankten wir der Eiseinladung beim Italiener gegenüber (rechts neben der Kirche) ab. Der Mann versprach uns das Eis für morgen. Er wird am nächsten Tag, als er tatsächlich am späten Nachmittag mit dem Jungen erscheint, nicht müde, zu betonen, dass man seine Versprechen einhalten muss. Die Italiener sind seine Freunde. Man muss sich mit ihnen gutstellen. Kleine Sätze, die erahnen lassen, aus welch anderer Welt er kommt. Dennoch kommt es zur Begegnung. Dies ist eine weitere Beobachtung: Viele Menschen, die irgendwie praktisch durchs Leben gehen, sind mutig, Kontakt zu versuchen, sehen schnell, den Wert unseres Sysyphos-artigen Anliegens und dass es dennoch, nein, ebendrum wichtig ist, auf je stimmige Weise Unterstützung auszudrücken. Denn in diesem Anliegen der direkten Demokratie, geht es nicht um den einzelnen oder Parteien, sondern um uns alle, und zwar so lange, wie wir gleichberechtigt und friedlich Lösungen für gemeinsame Herausforderungen finden wollen.

Auf dem Rastplatz an der Grenze von Thüringen zu Bayern. A7. Wir sind bereits in der Verabschiedung, da fragt H., der sich mit Neugierde zu mir in den Schatten des Omnibus gestellt hatte, woraus ein schönes Gespräch wurde, ob er mir noch etwas erzählen darf. Ich willige mit einem Blick zu Werner, der noch beschäftigt und noch nicht losfahren müssend erscheint, und einer Interesse bekundenden Wendung des Kopfes zu H. ein. H. beginnt nun, mir in einfachen, klaren Worten seine Lebensgeschichte vom Obdachlosen zum glücklichen Arbeitnehmer als Spediteur in einer schönen Partnerschaft zu erzählen. Er schwärmt von seinem verständnisvollen und doch strengen Chef, dem auch die Weiterbildung seiner Arbeitnehmer am Herzen liegt. Sie brauchen auch etwas für den Kopf, paraphrasiert H. Das sieht er und wenn einer durch eine Prüfung fällt, dann versucht er’s eben nochmal solange die Prüfung es zulässt. Alles finanziert vom Chef.

Als H. obdachlos war, wurde er von einer Zeitung im Norden Deutschlands interviewt. Einige Jahre später kam er mit seinem LKW wieder in den Norden. Die Zeitung druckte seine Geschichte auf der Titelseite ab. H. strahlt. Er weiß, wie es den allermeisten auf der Straße geht. Sie sind verzweifelt, trauen sich nichts zu und hängen von Kompensationsmitteln ab, die ihnen das letzte halbwegs stabile Glücksgefühl im Leben geben. Er hofft, dass seine Geschichte anderen Mut machen kann, dass sie sehen können, dass einem geholfen werden kann, dass man es schaffen kann. Voraussetzung für ihn ist: Wenn du deinen Kopf in den Sand steckst, dann kommt noch einer und tritt dir in den Arsch! Also steck deinen Kopf niemals in den Sand. Nutze deine Sinne und dir wird geholfen! H. beschreibt, wie er selbst durch die Untervermietung einer kleinen Wohnung, einem gerade ausgewachsenen von Drogen abhängigen jungen Menschen hilft. Erst war die Wohnung für das Sozialamt 30 € zu teuer, dann wurde die Grenze um 50 € erhöht. H. leitete sofort alles in die Wege und jetzt lebt sie glücklich, seine Möbel in Raten abzahlend in der Wohnung mit Hoffnung in der Luft und Wärme im Körper. Zum Abschied vertraut mir H. seinen Namen an, sodass ich den Artikel über ihn finden kann. Sie haben das „z“ in meinem Nachnamen vergessen, gibt er mir noch als Hinweis mit. Ich frage ihn, ob er das Infoheft vom Omnibus will. Er nickt. Das gebe ich ihm mit.

Beherzt trennen sich unsere Wege. Eine Begegnung wie ein Geschenk. Selten fühlte ich so stark die Besonderheit, die es doch ist, wenn sich ein Mensch einem anderen öffnet, wie eine Blume, die ihre Blüten weitet und mir einen Blick in ihr Inneres gestattet.

 

Update 12.09.2024: Mittlerweile habe ich freundlicherweise von der besagten Zeitung, der SHZ, den Artikel über H. als pdf bekommen: Heinz Lentzsch in Flensburg_ Vom Obdachlosen zum Lkw-Fahrer _ SHZ

 

Storchenbilder, Tourismus, eingekesselt. Die Bayern, direkt, neugierig, ihre Zeit und ihren Ort wertschätzend, Entscheidungen treffend, eine Lehrerin mit zehn Berufsschüler:innen fragt am späten Abend, ob sie mit ihrer Klasse vorbeikommen kann, am nächsten Morgen: meine erste halbstündige Omnibuspräsentation vor dem Bus und ein Dutzend Menschen.

Freilufttheater zur regionalen freien Feuerwehr, die dringend Mitglieder und Geld sucht. Unheimlich lustig, schräg und herzlich. So anders als akademisiertes Theater und momentan mir als deutlich wichtiger und freudiger erscheinend. Vereine, Kirchengemeinschaften, Gemeinden, das Land sterben aus, gleichzeitig sehnen sich junge und alte Menschen nach Gemeinschaft, sinnhafter Tätigkeit und Erfahrung.

die anderen scheinen ja auch mit einverstanden zu sein



Werner liest eine Textpassage vor. Dabei fällt der Satz: „Die anderen scheinen ja auch mit einverstanden zu sein.“ Der Kontext ist der Fortentwicklung von künstlicher Intelligenz (KI) und der Konsum von KI generierten Inhalten, wie Zeitungsartikel, Filme, Briefe usw. Der Satz übersteigt seinen Kontext vollkommen. Wenden wir ihn auf die Zeit des Nationalsozialismus an. Millionen Juden und andere Minderheiten werden deportiert und in Konzentrationslagern umgebracht. Die anderen scheinen ja auch mit einverstanden zu sein. Abscheulich. Oder auf den Umgang mit der Natur und mit nicht-menschlichem Leben. Laut greenpeace sterben täglich 130 bis 150 Arten aus.[1] Die anderen scheinen ja auch mit einverstanden zu sein. Laut terre des hommes wird jedes vierte Kind auf der Erde als chronisch unterernährt gezählt.[2] Lassen wir weitere Beispiele beiseite. Es ist offensichtlich, eine entscheidende Frage lautet, wie verhalte ich mich zu dieser Welt und wo ist mein Wirkbereich? Wo trage ich durch mein Verhalten oder Nicht-Verhalten zu etwas bei und wo liegt die Verantwortung in den Händen anderer Menschen? Diese Frage ist natürlich nicht ein für alle Mal und gar nicht so schnell zu beantworten. Schließlich machen wir Menschen Dinge zu unseren Angelegenheiten, wenn sie uns wichtig sind. Wir erschließen uns die Fähigkeiten zu wirken, wo wir vorher nichts bewirken konnten. Wo ist mein Wirkbereich? Wo trägt mein Verhalten zur Aufrechterhaltung von menschen- und lebensunwürdigen Zusammenhängen bei und wo nehme ich Handlungen und Entwicklungsmöglichkeiten wahr, die einen Unterschied machen könnten, hinzu menschen- und lebenswürdigeren Zusammenhängen? Wir stehen heutzutage vor dieser doppelten Frage, ob wir wollen oder nicht. Gehen wir der Frage aus dem Weg, so landen wir in einem schizophrenen Zustand, bei dem wir auf der einen Seite Verantwortung in einem Beruf oder in der Familie oder einer Gemeinschaft übernehmen und auf der anderen Seite in der Gesellschaft völlige Unverantwortung leben. Diese Unverantwortung ist kein Stempel von außen, sondern reiner Ausruf des eigenen Gewissens, das einen wissen lässt, dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten gar nicht versucht hat, eine Antwort auf diese Frage, wie verhalte ich mich zu dieser Welt, zu finden. Hilfs- und Umweltorganisationen auf der Straße sind wie der kleine Stachel, der daran erinnert, dass diese Frage ungelöst ist, und tragen gleichzeitig zur Schizophrenie bei, indem sie sofort eine finanzielle Unterstützung fordern oder indem sie einen mit einem schlechten Gewissen zurücklassen. Nein, die Frage muss nicht sofort beantwortet werden, sie muss gründlich beantwortet werden. Und sie muss vereinfacht werden, ohne an Tiefe zu verlieren, sodass sich eines Tages ein Antwortverhältnis bilden kann, aus dem heraus Handlungen und Urteile in rascher Manier erwachsen können. Wir haben nicht die Zeit, uns für alle Angelegenheiten einzusetzen, aber wir können üben, zu erkennen, wo Menschen sich aufrichtig für eine Welt mit menschen- und lebenswürdigen Zusammenhängen einsetzen. Wir können geübter darin werden, spontan Wege zu finden, ihnen nach unseren Möglichkeiten Unterstützung zukommen zu lassen, und wir können lernen, dass wir mit diesem Anliegen einer menschen- und lebewesenswürdigen Welt und dem Willen, dafür Verantwortung zu übernehmen, nicht alleine sind.

Dieser Gedanke führt uns wieder zu den anderen. Ich weiß nicht, ob die anderen auch einverstanden sind, dass KIs immer mehr unsere sinnliche Lebenswelt bestimmt, dass damals ganze Bevölkerungsgruppen systematisch umgebracht wurden, dass wir heutzutage systematisch Tierarten umbringen, ich weiß nicht, ob die anderen einverstanden sind mit dem, was passiert. Ich muss es, wo die Frage drängt, herausfinden, und ich muss herausfinden, wie sie sich zu dieser Frage verhalten. Und indem wir uns gegenseitig diese Fragen stellen und uns dadurch Zeit geben, die wirklich wichtigen Fragen zu beantworten, unterstützen wir uns dabei, das Leben nicht nur einfach abzubekommen, sondern bewusst mitzugestalten und immer wieder ein selbstwirksames, verantwortendes Verhältnis zu ihm zu entwickeln. Werfen wir die Scheinwerfer auf den Schein und finden wir es heraus.

[1] https://www.greenpeace.de/…/artensterben. Welche Definition von Art greenpeace der Statistik zugrunde legt, wird nicht genannt. Ich gehe davon aus, dass sie die Definition der Fortpflanzungsgemeinschaft meinen.

[2] https://www.tdh.de/was-wir-tun/themen-a-z/hunger-und-ernaehrung/daten-und-fakten/.

Gefahren für eine Demokratie

„Reminder. Ist die AFD eine Gefahr für die Demokratie?“ Dieser Betreff kommt heute als Benachrichtigung von Zeit Online zu mir. Kann eine Partei eine Gefahr für die Demokratie sein? Der Blick in die Geschichte beantwortet dies uneingeschränkt mit Ja, sodass Artikel 21 des Grundgesetzes verfasst wurde:

 

„(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.“

Im gleichen Sinne, Artikel 9 Abs. 2, der sich auf Vereine bezieht.

Entscheidend ist, dass wir uns vergegenwärtigen, was die freiheitliche demokratische Grundordnung meint und warum sie so schützenswert und verletzlich ist. Diese Vergegenwärtigung ist eine Wahrnehmungsaufgabe. Ganz entscheidend sind Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz. Artikel 3:

 

„(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Wenn bei einer Demonstration gegen bestimmte politische Gruppen wiederholt von der Polizei härter durchgegriffen wird als gegen andere, so ist die Gleichheit vor dem Gesetz und der Exekutive, die das Gesetz hütet, nicht verwirklicht. Es gilt kritisch genauer hinzuschauen, denn die Wahrnehmung verfeindeter Parteien, sei es auf der Straße, auf dem Fußballfeld oder im Haushalt, neigt dazu, die eigenen Benachteiligungen stärker zu empfinden als die der anderen und die Bevorzugungen der anderen stärker zu empfinden als die eigenen. Der Ruf nach Gleichberechtigung kann aber niemals durch solch eine Beobachtung abgetan werden. Mit aufmerksamem, urteilsaufschiebendem Blick gleichberechtigt auf die Sache zu schauen ist geboten. Dies ist eine Pflegeaufgabe einer Demokratie, so wie wir unseren Garten pflegen müssen, wenn wir wollen, dass er von Jahr zu Jahr erblüht. Nur geht es hier nicht um Wasser- oder Trimmpflege, sondern um Ereignis- und Geschichtspflege, denn, wenn bestimmte ungerechte Ereignisse sich wiederholen, kommt es zu Vertrauensverlust, zu Frustaufbau, zu eigenen Theorien- und Geschichtsbildungen. Plötzlich fragt man sich, lebt man überhaupt noch mit Menschen zusammen, denen auch an der eigenen Existenz und Freiheit und Verantwortungsfähigkeit gelegen ist? Plötzlich beginnen Gedanken, Gewalt gegen bestimmte Menschen als legitim zu betrachten.

Besinnen wir uns auf die Frage der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Wo hindert dich oder euch etwas daran, das Leben zu leben, das ihr gelebt haben wollt? Alle Antworten auf diese Frage, die von anderen Menschen erfordern, anders gesinnt zu sein, als sie gerade gesinnt sind oder anders zu handeln als sie gerade handeln, fallen heraus, es sei denn, es kann der direkte Zusammenhang aufgezeigt werden, wie andere Menschen sich mit ihrem Verhalten aktiv dagegen richten, dass du oder ihr das Leben leben könnt, das ihr gelebt haben wollt. Damit kommen wir zum Spannungsverhältnis von freiem Willen und Zwang bzw. gewaltvollem Druck.

Stellen wir es noch einmal anders dar. Jemand fragt mich, ob ich mit ihm Essen gehen will und dann am selben Tag noch jemand. Was in einem Moment begeistert ein freies Ja, bei mir auslösen kann, kann in Zeiten des Stresses das Fass zum Überlaufen bringen. Alles wird zu viel, selbst lieb gemeinte Einladungen verstärken ein Stress- und Druckgefühl. Der Punkt ist, dass kein Mensch isoliert lebt und auch nicht leben könnte. D. h., dass ein jeder immer ein Gefühl von Druck hat, das gegeben bestimmter Umstände zu einem Erleben von Unterdruck und Überdruck werden kann. Biologisch kann sich keine Einheit abgrenzen, wenn sie sich nicht von Innen gegen ein von außen drückendes Außen drückt. Ein Unterdruck im Leben meint nun, dass von außen kaum noch etwas drückt. Ich werde nahezu vollständig in Ruhe gelassen. Das kann, wenn der Zustand lange hält, Sinnkrisen auslösen. Aus jeglichen größeren Zusammenhängen und Träumen gerissen, wird die Frage größer, wozu das Ganze. Diese Entwicklung kann ins Pathologische abdriften, beschreibt aber erstmal einen Zustand, bei dem ich Zeit zur Verfügung habe, die ich in eine neue Richtung fließen lassen kann. Demgegenüber steht ein Zustand des Überdrucks, bei dem alles droht auseinanderzufallen, die Wohnung, soziale Beziehungen, Vorhaben auf der Arbeit, alles bekommt weniger Zeit, als es bräuchte, weitere Anfragen müssen mit klarem Nein abgewiesen werden. Wie auch immer man zum freien Willen steht, ein jeder Mensch hat eine Verantwortung mit seiner Zeit umzugehen, die nur er selbst beantworten kann. Die Entscheidungen, die er im Umgang mit seiner Zeit trifft, haben reale Konsequenzen. Und diese Entscheidungen sind frei, weil niemand von außen sagt, das musst du jetzt aber so oder so machen. Beide Zustände des Unterdrucks und des Überdrucks können Krisen auslösen, weil es keine Zeit mehr für die Frage oder durch fehlende Integration in das Leben mit anderen kein Gefühl mehr für die Frage gibt, was will ich eigentlich? Ein Gefühl bekommen für sich und die Zeit, die in der eigenen Macht steht, und für die Zeit, die nicht in der eigenen Macht steht, das ist wesentlich. Aber so wie die eigene Zeit für die anderen nicht unbeeinflussbar ist, sie können ja Druck auf mich ausüben, so ist die Zeit der anderen nicht unbeeinflussbar für mich, auch ich kann durch meine gezielte Aufmerksamkeit Druck ausüben. Dieses Wechselspiel von Druck in der Kommunikation ermöglicht überhaupt das Leben, andernfalls müssten wir uns ja völlig in Ruhe lassen und das würde das Leben schon rein fortpflanzungstechnisch ziemlich schnell beenden. Dieses Wechselspiel von Druck unterstellt sich und den anderen eine Kraft, dagegen halten zu können. Ein Ja anzubieten, ein Nein aufzubringen, beides braucht Kraft. Beides geschieht intuitiv aus Freiheit, weil es um die Verhandlung unserer eigenen Zeit geht. Die Unfreiheit beginnt dort, wo ich meine eigenen (zeitlichen) Grenzen oder die des anderen nicht beachte und letztlich breche.

 

Du kommst jetzt mit!

 

Er blieb nachts immer auf, in der Hoffnung, sie würde noch anrufen. Sie kannten sich vage, aber er war unsterblich in sie verliebt. Sie hatte bereits mehrfach Nein zu ihm gesagt, aber das Gefühl, ja der Wunsch war so stark, dass er diese Grenze nicht wahrnehmen konnte. So vernachlässigte er sein Leben in der Hoffnung auf ein anderes.

 

Die freiheitlich demokratische Grundordnung gerät dort in Gefahr, wo jemand oder eine Gruppe meint, besser für zwei oder für alle zu wissen, welche Zukunft für sie richtig ist, und wo jemand oder eine Gruppe beginnt, entsprechend zu handeln und zu behandeln. Damit wird gedanklich die Zeit des anderen bereits in die eigenen Pläne eingeflochten und der andere im eigenen Handeln nur noch als Mittel zum Zweck verwendet. Ein Unterschied liegt vor, wenn man gemeinsam aus freien Stücken einen Teil der Zukunft abgestimmt hat. Auch hier ist nichts in Stein gemeißelt, aber ich kann mit einer gemeinsamen Zukunft rechnen und wenn sich etwas verändert, lässt sich an die letzte gemeinsame Verabredung anschließen. Diese gemeinsamen Verabredungen sind ganz wichtig und sie sind es, die fehlen, wenn jemand oder eine Gruppe meint, besser für zwei oder für alle zu wissen, welche Zukunft für sie richtig ist.

Eine Diktatur rechnet mit der Heereskraft, mit der Wirtschaftskraft, mit der Widerstandskraft usw. der Bevölkerung, eine Demokratie rechnet immer und vor allem anderen mit den freien Willensbekundungen der Menschen. Immer. Die freiheitlich demokratische Grundordnung beginnt fortwährend in den Köpfen der Menschen mit der Voraussetzung, dass jeder verantwortlich für seine Zeit ist und am besten weiß, wofür er sie verwenden und wem er sein Vertrauen schenken will. Das bedeutet, dass sich die Formen immer wieder ändern können, die Form des Rentensystems, des Wirtschaftssystems, des Bildungssystems usw. Es gibt in einer Demokratie niemals den Punkt, an dem sich ein für alle Mal für eine Zukunft entschieden wurde. Die berüchtigte „Alternativlosigkeit“ gibt es nicht, weil die Menschen, die sich entschieden haben, gemeinsam durch freie Willensbekundungen und -vereinbarungen ihre Angelegenheiten zu regeln, immer erst Alternativen schaffen und schaffen müssen. Und alles, was von Menschen geschaffen wurde, kann auch von Menschen verändert werden.

 

Alle Entscheidungen, die wir treffen, sind Gesetzeserlasse über die Zeit, wenn sie konkret sind, oder es sind Gesetze über unsere Wahrnehmungseinstellungen, wenn sie ideell sind. Die Entscheidung, einmal im Monat ein öffentliches Treffen zum Gespräch über den Zustand der Demokratie im Bundestag abzuhalten, wäre ein konkretes Gesetz. Der Gleichheitsgrundsatz hingegen ist ein Ideal, dass sich an unsere Wahrnehmung und damit verknüpft an unser Denken, Entscheiden und Handeln richtet. Ideelle Gesetze werden immer wieder konkret, bloß lässt sich nicht genau vorhersagen, wann sie konkret werden. In dem Moment der Demonstration einer politischen Gruppe, die auf die Polizei trifft zum Beispiel, oder in Momenten auf dem Weg zum und im Gericht, oder auf der Straße, wenn ein Mensch gewaltvoll ausgegrenzt wird.

Gesetze können einen nicht einschränken oder unterstützen, es sei denn es gibt Menschen, die ihre Zeit und Macht dazu nutzen, die Einhaltung der Gesetze zu erwirken. Wird bei der Einhaltung der Gesetze mit zweierlei Maß gemessen, so schwächt das unsere demokratische Grundordnung. Es gilt immer wieder kritisch hinzuschauen. Dies ist Aufgabe einer Öffentlichkeit. Kommen wir zur Frage zurück, ob eine Partei die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährden kann und wie?

Jenseits aller Beispiele lässt sich sofort sagen, dass eine Partei dies niemals allein kann, sondern dass es darauf ankommt, wie auf das Verhalten der Partei von Öffentlichkeit und rechtsstaatlichen Institutionen reagiert wird. Wenn einer Partei erlaubt wird, Grenzen des demokratischen Miteinanders zu überschreiten, dann ist das eine Gefahr. Diese Gefahr liegt dann aber genauso bei denjenigen, die der Partei dieses Verhalten erlauben.

Grenzüberschreitungen liegen aus Sicht der demokratischen Grundordnung auch vor, wenn eine oder mehrere Parteien, die sich zusammenschließen, die demokratischen Spielregeln zur Besetzung von Richtern, zur Wahl von Parteien und Abgeordneten usw. in eine Richtung hin verschieben, die eine Wiederwahl begünstigt und oder die Macht-Chancen, der ungeliebten Partei verringert. Auch hier gibt es uneindeutige Grenzen, unausgesprochene Grenzen des Miteinanders, die man einfach nie gebrochen hat.

Wir sehen, auch im Ringen der Parteien miteinander und der Beziehung der Parteien mit dem Volk einer demokratischen Gesellschaft haben wir es mit Druck zu tun. Parteien sind ihrem Wesen nach gebündelte Willensbekundungen und damit Druck auf die Gesellschaft. Druck ist erstmal die Voraussetzung und die Chance etwas ins Fließen zu bringen. Wenn eine Partei erstarkt, die nicht nur ihrer Spitze, sondern der größten Zahl ihrer Mitglieder nach nur ihre eigene Zeit, Zukunftsvorstellung und Freiheit in der Wahrnehmung hat, ist sie dennoch erst eine Gefahr für eine demokratische Gesellschaft, sobald sie beginnt, die anderen Parteien oder andere Bevölkerungsgruppen in ihren politischen Willensbekundungs- und Grundrechten aktiv einzuschränken. Menschengruppen sind dann eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, wenn sie wiederholt demokratische Prinzipien und Gesetze schief, nach zweierlei Maß, auslegen oder ignorieren und damit durchkommen. Wie soll eine Partei das aber tun, wenn sie nicht entweder eine eigene gewaltbereite Exekutive aufbaut oder die gewaltbereite Exekutive des Staates sie dabei unterstützt.[1] Damit diese Polizei sie als staatliche in ihren antidemokratischen Bestrebungen unterstützt und nicht als private bräuchte es dem Recht nach eine Abschaffung der Grundrechte des Grundgesetzes und des politischen Neutralitätsgebotes der Polizei. Der Praxis nach bräuchte es die Entscheidung der Menschen der gewaltbereiten Exekutive, also des Militärs und der Polizei, nach der Grundordnung der erstarkten Partei zu handeln. Bei dieser Entscheidung könnte ein Druck einer starken Öffentlichkeit, einer privaten gewaltbereiten Exekutive oder einer finanzstarken Gruppe ausschlaggebend sein. Wir kommen also nicht umhin immer wieder festzustellen, dass der Zustand der gewaltbereiten, das ist rein beschreibend und nicht wertend gemeint, gesetzesbehütenden Exekutive und der Öffentlichkeit sowie das Verhältnis von Menschen in staatlichen Positionen zu Menschen mit viel Besitz wesentliche Faktoren sind, wenn wir versuchen wollen zu beurteilen, wo Gefahren für eine Demokratie liegen. Der Zustand der richterlichen Gewalt und der gesetzgebenden Gewalt sind genauso entscheidende Faktoren. Wer überwacht den Überwacher und die Machthaber? Die Antwort kann nur, so denke ich, jeder Beliebige sein bzw. eine denkende, kritisch prüfende und nachvollziehende Öffentlichkeit. Die sogenannte vierte Gewalt.

Parteien, gerade neue Parteien sind immer auch Öffentlichkeiten, die auf das, was sie wahrnehmen, reagieren. Sie gehen in eine Verantwortung, die aus einem Frust heraus, weit über das Ziel hinausschießen kann. Dennoch sind sie weder dumm noch blind. Wenn wir Versuche der Verantwortungsübernahme und der Öffentlichkeitsbildung abstrafen, schwächen wir die Demokratie. Es gilt zumindest für berufliche Menschen der Öffentlichkeit, diese Versuche, von wo auch immer sie kommen, unparteilich aufzugreifen, zu verstehen und in ihrer kritischen, lösungsorientierten Qualität in Vereinbarung mit demokratischen Grundwerten und der freiheitlich demokratischen Grundordnung zu stärken. Gleichzeitig darf die Öffentlichkeitsbildung niemals Parteien, die schon immer einen Hang zur Gesinnung und zu Gesinnungszwang hatten, überlassen werden. Ich behaupte: Ohne eine überparteiliche Öffentlichkeit keine Demokratie. Der Appell, die Öffentlichkeitsbildungsversuche durch Parteien aufzugreifen, geht notwendigerweise an die überparteiliche Öffentlichkeit. Es bleibt die Frage, wie es um diese steht und wie diese möglich und pflegbar ist. Ich wünsche mir, dass die Zeit beim nächsten Mal diese Frage an all seine Newsletter-Abonnent:innen schickt.

 

 

[1] Es müsste an dieser Stelle vertieft über den Begriff und das Phänomen der Gewalt nachgedacht werden. Wo beginnt sie? Bereits mit Worten oder erst mit körperlich übergriffigen Taten. Möglich scheint mir der Gedanke, dass Gewaltbereitschaft und demzufolge Gewaltausübung dort vorliegen, wo Menschen nachhaltig eingeschüchtert werden. Diese Wahrnehmung lässt Gewalt bereits mit Worten und geäußerten Emotionen beginnen. Nach diesem Blick hängt das Phänomen der Gewalt nicht nur mit der Gewalt ausübenden Seite, sondern genauso mit der Gewalt empfangenen Seite und ihrer Widerstandskraft zusammen. Denn ist man höhere Widerstandskraft gegen kommunikative Gewalt gewöhnt, so können noch nicht einschüchternd gemeinte Äußerungen die andere Seite eingeschüchtert zurücklassen. Der Comedian Kaya Yanar greift das beispielsweise auf, wenn er darstellt, wie arabische Sprachen im Klang deutlich gewaltvoller scheinen, als beispielsweise die deutsche Sprache.

Politik der Alternativlosigkeit

Die letzten zwei Wochen, sowie eine Woche im Juni war ich in ostdeutschen Bundesländern (Thüringen, Sachsen, Brandenburg) auf der Straße im politischen Gespräch mit vor allem älteren Menschen. Mein Eindruck ist, dass eine Bezeichnung der „AfD“ als nationalsozialistische Partei verkürzt und zu undifferenziert ist. Genauso wie Bezeichnungen von links-grün versifft bloßer Ausdruck einer sich verrohenden, respektlosen und undifferenzierten Gesprächskultur sind. Das Wiedererstarken der AfD nach einer Abschwächung bzw. Stagnierung um 2019 bis 2021[1] lässt sich für mich mit drei ganz aktuellen Zeitphänomenen und einem sich durchziehendem Thema, die uns alle betreffen und den Umgang der etablierten Parteien mit diesen Zeitphänomenen, erklären. Corona, Migration, Ukraine-Russland und sich durchziehend der Strukturwandel im Bereich Energieversorgung und damit im Bereich der Wirtschaft als ganzer.

In all diesen Fällen leisten sich die großen Parteien ideologische Aussetzer, die zu zu starken, zu undifferenzierten oder schlicht zu grundgesetzlich zu schnellen oder an anderer Stelle zu zu langsamen Entscheidungen, Maßnahmen und ihren Konsequenzen führen.[2] Dabei ist es, denke ich, kein Zufall, dass eine über Parteigrenzen hinweg konsensuelle Politik der Alternativlosigkeit, wenn auch aus scheinbar etwas unterschiedlichen Gründen, erst Euro, dann vor allem Migration, Klimapolitik und Krieg, eine Partei mit dem Namen „Alternative für“ als Reaktion hervorruft.

Eine Politik der Alternativlosigkeit gibt den Begriff der Politik selbst auf, bei dem um Entscheidungen gerungen wird, die die Richtung in eine offene immer erst zu gestaltende Zukunft bahnen. Das spüren Menschen, sodass abwertend von Zirkus, Scheindemokratie, Theater usw. gesprochen wird. Von manchen werden gar größere Mächte im Hintergrund vermutet. Auf all das muss und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Der Kernpunkt ist, dass die Alternative für Deutschland selbst eine Politik der Alternativlosigkeit betreibt. In dem Fall sind sie es, die alternativlos sind, wenn aus unserem Land noch etwas werden soll. Dafür kapern sie zuerst einmal den Volksbegriff, wir sind das (richtige) Volk. Das sehen sicher nicht alle ihrer Wähler so, aber unbezweifelbar einige an ihrer Spitze, die durch hohe Zuspruchszahlen übermütig werden, und andere, die sich mit ihren Führungsfiguren identifizieren können. Menschen sind allerdings nicht dumm. Sie spüren, dass eine freie Demokratie eine Politik der zu verhandelnden Alternativen meint, und zwar grundsätzlich. Wenn bestimmte Maßnahmen als alternativlos oder bestimmte Themen und der Umgang der deutschen Bevölkerung damit nicht offen verhandelt werden, weil, wer sie verhandeln will, Gefahr läuft, als Putin-Versteher oder als Rassist bezeichnet und damit aus der politischen Gemeinschaft ausgegrenzt zu werden, dann stärkt das diejenigen, die einen Weg finden, diese Themen zu verhandeln. Abermals geht es im demokratischen Sinne gar nicht darum, direkt die richtige Lösung zur Hand zu haben, sondern erstmal darum, dass im Gespräch über den Umgang unterschiedliche Bedürfnisse gesehen werden, und nicht von vornherein alternativlos die Richtung klar ist, in die reagiert werden muss. Waffen in ein Kriegsgebiet zu schicken ist ein Dilemma. Wenn plötzlich gesagt wird, dass der Angriff auf die Ukraine ein Angriff auf uns alle ist, aber vorher die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wurde, sodass potentiell der NATO-Bündnisfall greift, dann ist diese Rhetorik für manche zurecht erschreckend und überrumpelnd.[3] Ich überlasse es den Lesenden, den Umgang mit den anderen Themen auf seine alternativlose Rhetorik zu überprüfen und weise nochmal diejenigen, die mich missverstehen wollen, darauf hin, dass hiermit keine Rechtfertigung für die alternativlosen Alternativen, die die AfD als Lösungen anbietet, erfolgt, sondern nur der Versuch, die AfD als Phänomen differenzierter und im Zusammenhang der deutschen Gesellschaft und Geschichte zu verstehen.

Dies führt zu weiteren Gedanken. Gerade im Osten Deutschlands, wo die politischen Routinen noch nicht so verkrustet sind, wo man den Kontrast unterschiedlicher Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensformen tatsächlich in seiner Biographie vereinen und spüren kann, werden ohne bewusstes Zutun aktuell gewisse Erinnerungen wach. Bespitzelung, Misstrauen, die Wortwahl wird plötzlich überhöht wichtig, du könntest auf dieser Seite stehen, wer sich nicht stark genug abgrenzt, wird verdächtigt, erfährt Ablehnung… Gleichzeitig spüren Menschen, dass regionale, soziale Bänder reißen, die in der Deutschen Demokratischen Republik von großer Wichtigkeit waren. Die ganze Welt zu retten, braucht Zeit und hat Konsequenzen für die regionale Welt, in der man verwurzelt ist. Wer nicht, seit er denken kann, in einem wachsenden Konkurrenz-Kapitalismus gelebt, sondern tatsächlich die Solidarität im Kleinen erfahren und geteilt hat, der ist sich dieser Tatsache mitnichten bewusster, als wer nur den die Menschen vereinzelnden und sich zunehmend globalisierenden Konkurrenz-Kapitalismus erlebt hat. Und zwar so stark, dass er diese Wahrnehmung auch an Nachfahren irgendwie weitergeben kann. So wäre meine These, warum auch viele jüngere die AfD wählen. Denn, wenn die AfD einen wichtigen Gedanken mit sich trägt, dann ist es wohl dieser, wir können nicht die ganze Welt retten, wir müssen auch darauf achten, wie es der Bevölkerung geht, die schon lange in Deutschland lebt und wie viel Kraft diese hat. Daraus folgt eine konservative Politik und eine starke Aufmerksamkeit auf Abgrenzung. Der Erhalt der eigenen Kräfte und die Fähigkeit der Abgrenzung sind essentiell, um das eigene Leben zu führen, um einen Haushalt zu führen, um eine gemeinsame Unternehmung umzusetzen, diese Werte sind an sich nichts Schlechtes. Die reaktionären, aus Sicht der gegenwärtigen Politik ins extreme Gegenteil gehenden Antworten der AfD, ihre Hetze gegen andere Parteien, Politiker:innen und Wähler:innen sowie gegen fremde Kulturen und Flüchtlinge, ihre symbolische Hyperreaktion falls jemand gendert – ich nenne das mal umgekehrte Symbolpolitik –, all das macht sie für mich nicht zu einer Alternative, sondern zu einer Fortführung der Politik der Alternativlosigkeit nur extrem in die andere Richtung, was symptomatische Themen angeht. Aktuell deutet für mich nichts darauf hin, dass sie sich konzentriert den Herausforderungen stellen werden, die der Kapitalismus und die sich zuspitzende Parteiendemokratie an uns stellen. Zumindest nicht in gebündelter Kraft. Ihre Kraft geht gegen gegen gegen. Zurück zurück zurück. Konservatives denken. Der Grundimpuls, in Zeiten der Beschleunigung, des politischen Machtmissbrauchs und der wirtschaftlichen und kulturintergrierenden und bewahrenden Überforderung, innehalten und auch Alternativen denken zu wollen, scheint mir wichtig. Aber eben genau dieses Ziel der Bildung politischer Öffentlichkeit verfehlt auch die AfD hochkant.

Ich mag mich mit all dem Gesagten irren und mit Gegenbeispielen zurechtgewiesen werden. Dass wir uns Zeit und Räume nehmen sollten, um herausfordernde Fragen jenseits von Alternativlosigkeit, also politisch, zu verhandeln, das kann ich entschieden sagen. Die Aufgabe von Menschen in der Politik und der Öffentlichkeit, diese Zeiten und Räume zu schaffen, wird in einer freien Demokratie niemals veralten. Eine Politik und eine Öffentlichkeit, die eine parteipolitische Politik der Alternativlosigkeit betreibt, wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Mit undifferenzierter Ausgrenzung und Abstempelung kommen wir in einer Demokratie nicht weiter und das gilt für alle!

[1] https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273130/etappen-der-parteigeschichte-der-afd/.

[2] Ich denke erstens an die grundrechtseinschränkenden Maßnahmen der Corona-Politik, die zum einen den Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip – Herausforderungen werden dort gelöst, wo die Betroffenheit liegt, und nur dann von einer höheren (staatlichen) Ebene angegangen, wenn die kleinere Ebene überfordert ist – nahezu ausgehebelt haben und zum anderen im Zuge einer unsachlichen Debatte erfolgt sind, bei der die Bevölkerung aus der jeweils anderen Sicht in abwertende Lager gespalten wurde bzw. kein gemeinsamer Gesprächsraum mit stark unterschiedlichen Wahrnehmungen gehalten werden konnte. Dieses parteipolitische Phänomen, dass sich gegen den Begriff der Politik selbst wendet, lässt sich zusammenfassen als die Not, auf der „richtigen Seite zu stehen“ und diejenigen, die durch Äußerungen oder Handlungen als auf der anderen Seite stehend identifiziert werden von der eigenen Seite zu überzeugen. Dieses Phänomen richtet sich gegen die Demokratie und den Begriff der Politik selbst, weil Politik als Entscheidungsfindung für gemeinsame Herausforderungen und Angelegenheiten nur dann geschieht, wenn unterschiedliche Wahrnehmungen auf eine Sache zugelassen und aus dieser Spannung heraus, Wege gesucht werden, denen alle Betroffenen oder zumindest die Mehrheit der Betroffenen zustimmen kann. Bei diesem Schritt ist wichtig, dass nahezu alle zur Einigung gekommen sind, dass eine baldige Entscheidung in Anbetracht der Zeit wichtiger ist, als weiteres Diskutieren, sodass auch die unterlegene Minderheit, das Ergebnis wird mittragen wollen.

Zweitens denke ich an Artikel 20a des Grundgesetzes, dessen Einhaltung den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bedeutet. Aufgrund der traditionellen Versorgung des Energiebedarfs der deutschen Bevölkerung aus nicht nachhaltigen Quellen, Kohle, Gas, Öl, oder aus Quellen, die ein geballtes riesiges Zerstörungspotential haben, Atomkraftwerke und die Ablagerung des Atommülls, folgt für Regierungen, die diese Herausforderung angehen wollen, die Förderung eines massiven Strukturwandels, der aus einer Wahrnehmung der Angst betrachtet Arbeitsplätze, Existenzen, Gewohnheiten und Lebensweisen bedroht. Für die einen können diese Entwicklungen nicht schnell genug gehen, für die anderen gehen sie zu schnell und für manche steht die Begründung dieser Richtung an sich noch infrage. Wichtig ist, dass das Wie der Veränderungen als verhandelbar und gemeinsam mit allen Betroffenen gestaltbar betrachtet wird. Ideologische Aussetzer, die eine bestimmte Weltsicht und daraus abgeleitet bestimmte Maßnahmen für unverhandelbar halten, gefährden diese politische und (hoffentlich nach besten Bemühungen durchgeführte) demokratische Prozesse.

[3] Dass das mit den Beistandserklärungen im Kriegsfalle gar nicht so einfach und eindeutig ist, zeigt der Sachstandsbericht des Bundestages vom 22.04.2024 bezüglich des Themas „Konfliktpartei im Ukrainekrieg und NATO“. https://www.bundestag.de/resource/

Nebelschütz

Heimatdorf von Thomas, der Hauptantreiber- und Unterstützer der Sorbenreise. Er war hier über 30 Jahre lang Bürgermeister. Mit 26 ging er in sein erstes Amtsjahr. Am Lagerfeuer erzählt er, wie das Geld und die Kraft zusammenimprovisiert wurden, um einen vernünftigen Fußballplatz in Nebelschütz zu errichten. Bei Abendlicht bestaunten wir zuvor von seiner Hochterrasse aus seinen Garten. Er wird nach permakulturellen und das Dorf nach enkeltauglichen Prinzipien gepflegt, wie mir Thomas erzählt. Aktuell werden Kräfte stark, die diese Richtung nicht gutheißen. Seit zwei Jahren ist Thomas nicht mehr Bürgermeister und hat anonyme Diffamierung erlebt. Das gibt ihm Zeit für den Serbski Sejm und der Gründung der Stiftung für Enkeltauglichkeit. Werte von Mehrgenerationalität und Pflege sind in Nebelschütz spürbar, wie ich sie vielleicht noch nie an einem Ort wahrgenommen habe. Thomas‘ Sohn baute nebenan vor 8 Jahren ein eigenes Fachwerkhaus. Ein schottriger, sandiger Weg führt etwa zwanzig Meter entlang von der linken Seite zum Haus, sodass man über ein Feld mit trockenen Gräsern hinweg den Anblick des hellfarbenen Fachwerkhauses mit zwei Meter hohem, weißen Sockel und dunklen Holzbalken vor dem Grün des beginnenden Waldes bestaunen kann. Die Balken sind aus Mondholz aus der Umgebung, wie man uns erzählt. Immer mehr Menschen fällen nach dem Mondkalender und machen sich dadurch bestimmter Eigenschaften des Holzes zu diesem Zeitpunkt zunutze. Was für den a-astrologischen Städter verrückt klingen mag, scheint tatsächlich seine Früchte zu tragen.

Wir bezeichnen oft Menschen und Handlungen als verrückt, die eigentlich bloß verrückend sind.

(Danke an Werner für die Fotos)

Die Verbindung von Kirche und Sorge um die Schöpfung

schwarz-weißdenken zu vereinen, verleiht Flügel

Auf der Fahrt nach Senftenberg sehen wir eine Buchhaltestelle – eine alte Bushaltestelle, in der nun Bücher wie bei einem Bücherschrank stehen. Eigentlich unmöglich, dass der Omnibus mit Werner und mir, zwei Leseratten, da nicht angehalten hat, praktisch war der Bremsweg zu lang – und dann direkt danach diese schöne Fachwerkkirche:

Ein öffentlich zugängliches Schachspiel in Bautzen. Weil nicht viel los war, konnte ich eine Stunde spielen. Den Schlüssel für die Truhe leiht man beim Museum gegenüber aus. Ich bin begeistert.

Die Verbindung von Kirche und Kunst

Tatsächlich ist diese Kirche in Bautzen, einer Stadt mit viel sorbischer Vergangenheit und noch heute praktizierter Zweisprachigkeit und sorbischem Leben, aufgrund der Tatsache, dass manche Sorben evangelisch wurden und die andere katholisch blieben, zweikirchlich. Ein Eingang ist evangelisch, ein anderer katholisch. Beide nutzten und nutzen die Kirche, wohl nicht gleichzeitig wurde mir gesagt.

Die gesetzlichen Regelungen zur Volksgesetzgebung auf Bundeslandebene und zum kommunalen und städtischen Bürgerentscheid sind wesentlicher Teil der aktuellen Spielregeln unserer Demokratie. In allen Bundesländern und überall auf kommunaler Ebene ist es mehr oder weniger leicht möglich, sich gemeinsam direkt gesetzgebend einzubringen! Wenn diese Möglichkeiten der direkten Bürgerbeteiligung nicht an den dafür zuständigen Stellen, Rathäuser, Bürgerbüros, Landeszentralen für politische Bildung ausliegen, dann ist das so, als würde man uns beim Fußball nur erklären, wie man Tore schießt, nicht aber was Abseits ist. Kurzgesagt, man sagt uns, ihr könnt Wahlergebnisse erzielen, aber man macht sich keine Mühe, uns aufzuklären, dass wir auch direkt ins Spiel eingreifen können.

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, für einige Bundesländer DINA4 Handouts mit den dortigen Spielregeln der direkten Demokratie zu erstellen:

Handout_DD_in_Brandenburg

Handout_DD_in_Hamburg

Handout_DD_in_Nordrhein-Westfalen

Handout_DD_in_Sachsen

Handout_DD_in_Thüringen

Die Sorben sind ein einheimisches Volk, das seit über 1500 Jahren ansässig in der Ober- und Niederlausitz also in Teilen von Sachsen und Brandenburg ist. Die sorbische Sprache unterscheidet sich zwischen beiden Regionen so stark, dass wir zwei unterschiedliche Flyer benötigen. Zudem bezeichnen sich die Niedersorben auch als Wenden. Bis heute sind insbesondere in der Oberlausitz, wo noch mehr Menschen die sorbische Sprache sprechen, zweisprachliche Straßen- und Einkaufsschilder. Das sorbische Volk ist nicht nationalstaatlich organisiert. Sorbe ist, wer sich zum Sorbischen bekennt. Dementsprechend ist für uns mit dem Omnibus die Aufgabe, Städte und Dörfer, in denen bekannterweise Sorben leben, zu besuchen und Menschen zu finden, die sich für die Briefwahl des 2. sorbisch/wendischen Parlaments registrieren lassen oder die sich als Kandidat aufstellen lassen wollen.

Hintergrund der freien und demokratischen Wahl eines eigenen Parlaments sind nicht etwa territoriale Bestrebungen, sondern der Versuch, mit einer demokratisch legitimierten Volksvertretung eigene Handlungsspielräume und ihre Finanzierung und damit Eigenverantwortung mit den Landes- und der Bundesregierung verhandeln zu können. Vor allem die Aufgabe der Bildung innerhalb des sorbischen Volkes ist in der Vergangenheit und in den letzten Jahren durch den Lehrermangel auf deutscher Seite weiter unter Druck geraten, sodass gerade sorbisch als Muttersprache in seiner Weitergabe immer mehr bedroht ist. Es geht somit vor allem um die Möglichkeit eines selbstverwalteten und eigenen Bildungswesens. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es eine sorbische Körperschaft des öffentlichen Rechts. Langfristiges Ziel des Serbski Sejm ist folglich die Unterzeichnung eines Staatsvertrags zur Bildung einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Zudem geht es darum, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken und um die Wahrnehmung der Sorben in der Region.

 

weiterführend:

https://serbski-sejm.de/de/serbski-sejm-warum.html

Serbski Sejm Chronologie

Serbski_Sejm_Bildungskonzept_2024

Saechsisches-Sorbengesetz

 

 

Nebelschütz: Startpunkt der Tour

Parkanlage mit verstecktem Bismarck-Turm. https://www.bismarcktuerme.net/spremberg

Ostkreuz

Er, einen Blumenstrauß überreichend, sie aus dem Zug steigend. Beide sich zärtlich fest umarmend.

Er, ein Lachen auf dem Gesicht, sie, ich sehe nur ihren Hinterkopf. Beide küssen sich. Glücklich.

Austauschbare Individualität.

Skelette, die für lebendig gehalten werden.

Kaum Raum, es sich zu eigen zu machen.

Ostbahnhof

Im Krieg sterben nicht die Besitzenden und Mächtigen, sondern die arbeitenden, „kleinen“ Menschen, gegenseitig durch die Waffe oder im Kreuzfeuer. Die Herausforderung, dass man nur schwer beiden Seiten gleichzeitig die Waffen entziehen kann, bleibt. Wer Mord für niemals legitimierbar betrachtet, wird sich mit aller Kraft für Waffenstillstände und -rückzüge einsetzen, also für Diplomatie und die Aufarbeitung von Angst, die miteinander Reden erst möglich macht, wie Albert Camus es in seinem Essay „Weder Opfer noch Henker“ beschreibt.

Auf welcher Seite stehe ich?

„Der ehemalige Mauerverlauf zwischen Oberbaumbrücke (unten, nicht mehr im Bild) und Schillingbrücke (Bildmitte) an der Grenze zwischen den Ortsteilen Friedrichshain (rechts im Bild, ehemals Ost-Berlin) und Kreuzberg (links im Bild, ehemals West-Berlin).

Die politische Grenze, die in diesem Grenzabschnitt nicht mit dem Standort der vorderen Sperrmauer übereinstimmte, ist gelb hervorgehoben. Für Flüchtlinge war die Frage des Grenzverlaufs lebensentscheidend, denn die Wasserfläche der Spree gehörte hier noch in ganzer Breite zu Ost-Berlin.

Der letzte Abschnitt der hinteren, blau eingezeichneten Mauer (unten) ist weltweit als „East-Side-Gallery“ bekannt. Ihre 1990 entstandenen Bilder wurden 2009 denkmalgerecht saniert.“

Stadt Berlin

Eine Spinne

Weiter geht’s mit der austauschbaren Individualität. So verunsichert über das, was man will, dass überall QR-Codes angebracht sind. Weil ich diese erst übersehe, wird mir ein Kärtchen hinterhergetragen.

Ich will auf diese Aussage antworten. Parteipolitik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, ohne Parteien, ohne Seiten, ist gar kein Krieg möglich –, aber Parteipolitik ist nicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, wenn sie wie ein Spiel betrieben wird, bei dem der (Wahl)sieg oder die (Wahl)niederlage damit einhergehen, dass alle das Spielfeld wieder aufräumen, sodass beizeiten ein neuer Wahlvorgang mit gleichen Voraussetzungen starten kann. Wie in jedem Spiel mit zwei oder mehreren Parteien geht es auch im Krieg um Sieg und Niederlage. Manche Menschen halten sich deshalb von jeglichem Wettbewerb fern. Die siegerische Mentalität ist für sie Kriegsmentalität zumindest im Ansatz. Sie übersehen die Wertschätzung für das Spiel an sich und die Zeit. Nachdem der König gefallen, nachdem der Matchball gewonnen, nachdem die Spielzeit abgelaufen ist, geht es mit wenig Zeit- und Materialaufwand einher, das Spielfeld wieder herzurichten. Denken wir nun an die Szene aus Harry Potter und der Stein der Weisen. Harry und Ron sehen sich im Verließ von Hogwarts einem steinernen Schachspiel mit lebensgroßen Figuren konfrontiert. Sie merken schnell, dass etwas anders ist. Wenn auf diesem Feld eine Figur geschlagen wird, dann wird sie buchstäblich zerschlagen. Die Szene bekommt damit etwas dramatisches und kriegerisches. Dieses Schachspiel wieder aufzubauen wird (für Nicht-Magierinnen) viel mehr Zeit in Anspruch nehmen, als ein solches, wo das Spiel an sich nicht zerstört wird, abgesehen davon, dass dieses Schachspiel, wenn man selbst Spielfigur ist, lebensgefährlich ist. Diese Analogie zeigt auf: Politik ist dann die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, wenn keine gemeinsame Wertschätzung für das Spiel und das Spielfeld besteht und wenn die Siegeszüge darauf aus sind, das Spiel an sich zu zerstören in Form der gemeinsamen Verabredungen, die missachtet werden, und in Form des Gegners, der zum Feind wird, dem das Leben so schwer wie möglich gemacht oder gar zerstört werden soll.

 

Wir müssen aktuell sehr aufpassen, dass wir uns nicht gegenseitig kriegerische Absichten unterstellen und sie dadurch erst heraufbeschwören und dass wir gleichzeitig dort, wo tatsächlich kriegerische, das Spiel an sich schädigende Handlungen passieren, dagegenhalten und diese klar benennen. Um das zu tun, scheint es mir unabdingbar, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen: Das Spiel der Demokratie basiert auf den Menschenrechten, auf der Wahrnehmung jedes Menschen als unbedingt wertvoll. Das Wort „Würde“ kommt von Wert. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Daraus leitet sich eine Pflicht ab, uns zu unterstützen und immer wieder Wege zu suchen, den Wert aller Menschen zu erhalten. Weil nur jeder Mensch für sich am besten spürt, was er braucht, um seinen Wert zu erhalten, Menschen aber voneinander und den gemeinsamen Ressourcen abhängig sind, leitet sich aus den Menschenrechten eine Pflicht ab, miteinander im Gespräch zu bleiben bzw. immer wieder Momente zu (ver)suchen, in denen wir bereit sind, miteinander zu reden und uns direkt wahrzunehmen. Aus diesen Gesprächen und der direkten Wahrnehmung voneinander können und werden sich Wege ergeben, einander zu unterstützen, sich mit seinem Wert, mit seiner Würde, zu erhalten.

Im ICE

In der Bahn entscheidet jetzt der Algorithmus, wer seine Bahncard zeigen muss. Meine Sitznachbarin musste sie nicht zeigen. Wer ist dieser Algorithmus? Ich glaube, ich muss mal ein Wörtchen mit ihm reden.