Eine Szene so undurchdringlich und dann doch erschreckend deutlich, dass sie sich tief in meinen Magen gegraben hat. Auf Sendung vor dem Omnibus sehe ich einen großgewachsenen Mann um die 55 mit übergewichtigen, wuchtigen Körper, eng neben einer Frau laufend, die geradeso zu alt gewesen zu sein scheint, um seine Tochter zu sein. Die Hände sind ein Gemenge mittig vor den beiden Körpern, welche eng nebeneinander relativ langsam vorankommen. Er läuft unrund, als hätte er etwas an der Hüfte, beide wirken sie, als ob etwas los sei. Beim Laufen nimmt er ihre Hände und hilft ihr, eine weiße Plastiktüte, gerade so groß, wie wenn man im Supermarkt ein Pfund Pilze kauft, von der rechten Hand in ihre linke Hand zu bekommen. Warum sie das nicht selbst kann? Sie wirkt verängstigt. Etwas scheint mir ungewöhnlich und je nachdem, wie ich auf die Situation schaue, gar nicht gut. Ein Mensch kommt auf mich zu, die beiden geraten mir kurz aus dem Blick. Mittlerweile sind sie an der Busspitze vorbei, einen Halbkreis um die Altstadt beschreiben. Ich schaue ihnen nach, werde aber durch einen begeisterten älteren Herren angesprochen, der vorhin lange mit uns gesprochen hatte und diesmal aber schnell merkt, dass er nicht viel von meiner Aufmerksamkeit bekommt. Der Mann mit Halbglatze und braun-grauen kurzen Haar hat ihre nun freie rechte Hand hinter seinen Rücken gelegt und hält sie fest am Handgelenk. So erscheint es mir aus zehn Metern. Sein linker Arm ist über ihre Schulter gelegt, abgelegt wie auf der Lehne eines Sessels. So stark ist der Größenunterschied. Der Wille in mir wird vehement stärker, sie zur Rede zu stellen und gleichzeitig schwindet die Gelegenheit. Ich bin überfordert in meinem Urteil und von der Notwendigkeit schnell zu handeln, habe solch eine Situation noch nie erlebt. In den Omnibus gesprungen frage ich Werner, was er zu den beiden denkt, aber ihm fällt es schwer, sie in zunehmender Ferne zu identifizieren. Der Eindruck lässt mich nicht los. Sicher sein kann ich mir nicht, das hier gerade etwas Unfassbares geschieht. Wieso nimmt sonst niemand etwas wahr, bleibt stehen, reibt sich die Augen? Sicher sein, dass alles mit rechten Dingen und freien Willen vorgeht, kann ich mir auch nicht. Zu ungewöhnlich scheint dieses Paar von Menschen, zu irritierend der verstörte, ja verängstigte? Gesichtsausdruck der Frau, die anderthalb Köpfe kleiner als er und mit hellerem, leicht gewelltem schulterlangen Haar ihr Gesicht für meine Augen schwerer identifizierbar machte. Wie würde jemand vorgehen, der jemanden in der Öffentlichkeit gewaltsam mitnehmen will? Wohl genau so denke ich. So, dass es wie ein vertrautes Paar scheint, aber ein vertrauter Mensch würde nicht den Arm des Partners hinter seinem Rücken festhalten müssen. Wieso macht die Frau nichts? Vielleicht, weil sie unter Schock steht, ihr Wille überrumpelt und verängstigt aus der Ferne zu schaut.

Ein paar Minuten später fahre ich mit dem Fahrrad den Weg hinterher aber finde sie nicht mehr. Ich habe den Antrieb gebraucht, gleich etwas mit dem Fahrrad einzukaufen, um den Mut aufzubringen, es versuchen, die beiden noch zu finden. Trost für mein Gewissen ist, dass jedes Mal, wenn ich seitdem an den Eindruck denke, ich glauben (muss), dass ich nicht der einzige wahrnehmende, handlungsfähige Mensch auf der Welt bin und dass ich mich vielleicht doch getäuscht habe, und alles mit rechten Dingen zuging. Mein Bauchgefühl meldet sich und sagt etwas anderes. Und dennoch, ich muss glauben, dass es Menschen gibt, die in solch einer Situation handlungsfähig sind und denen sie noch begegnet sein könnten. Ich kann mir nicht sicher sein, dass sich die Situation zum Guten gelöst hat, genauso kann ich mir nicht sicher sein, dass sie sich nicht zum Guten gewendet hat. Glaube vermischt sich mit Verantwortung. Etwas tun, damit es mir nicht vollkommen den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich weiß, dass ich in den wenigen Stunden, die ich noch in Bielefeld bin, zur Polizei gehen muss, um den Eindruck zu schildern und meine Personalien zu hinterlassen und um mir selbst Hilfe zu holen durch den Ratschlag, was sie getan hätten in der Situation. Zum Glück ist die Wache in einer Minute zu erreichen. Ich tue es. Die Polizisten sind verständnisvoll, ob der Überforderung der Situation, schätzen sie ähnlich verdächtig ein, raten beim nächsten Mal, sofort die Polizei zu holen und nehmen meine Beschreibungen und meine Kontaktdaten auf. Das war, was ich heute tun konnte und was ich heute nicht tun konnte. Der Eindruck und das mulmige Gefühl bleiben.