
Auf dem alten Marktplatz vor dem Rathaus. Links thront eine große Kirche. Martin Luther predigte hier einst.
Man hilft uns im Bürgerbüro auf Anfrage mit Stadtplänen, Toiletten und Leitungswasser. Ob sie Information über direkte Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern hätten. Ich werde ins Sekretariat geschickt. Ich komme aus zwei Wochen Urlaub und kann Ihnen nicht helfen. Ich werde ins Hauptamt geschickt. Es ist kurz vor 9:30, sodass ich keine Zeit habe, weil um halb die Gespräch-, Unterschriften- und Fördererfindenarbeit für den Omnibus beginnt.
Ich nehme mir vor, fortan in jeder Stadt nach den Gesetzen für direkte politische Beteiligung auf Gemeinde- und Bundeslandebene beim Bürgerbüro zu fragen. Diese Regelungen zu kennen, ist die Voraussetzung, um sie zu nutzen. Wenn sie nicht im Bürgerbüro und Rathaus niedrigschwellig ausliegen, dann ist das ein Skandal.
In den folgenden Gesprächen – und das Interesse an uns in Thüringen war groß – frage ich immer wieder danach, ob die Menschen von diesen Möglichkeiten wissen. Manche kennen tatsächlich manche Quoren – konkret gemeint sind die Mindestanzahl benötigter Unterschriften beim Antrag eines Bürgerbegehrens oder beim Schritt der Volksinitiative (Unterschriftenquorum) oder die Mindestanzahl von Ja-Stimmen bei der Abstimmung des Gesetzesentwurfes (Zustimmungsquorum). Wirklich kennen tut sie keiner.
In meinen Gesprächen dreht es sich zu 90 % darum, dass es ja schön wäre, wenn es die Volksabstimmung gäbe, aber sie entweder zu wenig genutzt werden würde oder für die falschen Themen oder zu falschen Ergebnissen führen und dass alles sowieso zu lange dauern würde. Einige Menschen bringen mehr Zeit und Aufmerksamkeit. Wir kommen ins Denken und stellen Demokratiebildung als Voraussetzung für gelungene Volksabstimmungen und für das Verständnis und die Wertschätzung eines intakten, demokratischen Miteinanders fest. Eigentlich sei die Familie der Ort dafür. Eine intakte Familie bezeichnet G. dies. Wir denken weiter. Erzieher:innen und Lehrer:innenausbildungen sind weitere Voraussetzungen, denn einen demokratischen Umgang, eine demokratische Entscheidungsfindung anleitend zu unterstützen, braucht zum einen die Selbsterfahrung und zum anderen initiierende Übung damit. Und zudem wäre es wichtig, in der Stadt und Öffentlichkeit solch moderierte Gesprächsräume zu haben, generell, vor Wahlen oder zur Themenfindung von Bürgerbegehren oder Volksabstimmungen. Schnell kommt bei meinem Gegenüber wieder die Resignation dazu. Wer würde das denn machen wollen? Die Stelle müsste geschaffen werden, denke und sage ich. Die Menschen, die das machen wollen würden, lerne ich in Gruppen politischer Bildner:innen und in meinem Studium gerade kennen. Ich kann mich selbst dazu zählen. Das wird aber schnell zum Vollzeitjob. Drum sollte es auch eine Stelle und nicht Ehrenamt sein. Aber ob dies mit der Vollzeitarbeit notwendig so sei, ist dahingestellt. Mit mehr Zeit lässt sich die Frequenz der Treffen und die Vielfalt der Ausrichtungen – Gesetzesaufklärung, Gesetzesabstimmungsberatung, Themenfindung für Bürgerentscheide oder einfach informeller Austausch mit seinen Mitbürger:innen unterschiedlichen Alters, Gesetzesentwurf-Ausarbeitung usw. – erhöhen. Nur eines wäre wichtig: Es ginge bei all diesen Treffen um die Menschen, die dann noch Bürger eines Ortes sind, und um konkrete Sachfragen. Das heißt, dass sie sich zu diesem Ort zugehörig und für ihn und seine Weiterentwicklung und Aufrechterhaltung verantwortlich fühlen, im Sinne eines friedvollen Miteinanders mit allen anderen, deren Recht es genauso ist, dort zu leben und immer wieder ihr Glück zu finden. Es ginge bei den Treffen um die Menschen, die einander kennenlernen und ihr gemeinsames Lebensumfeld gestalten wollen, es ginge nicht um Parteien und Machtverteilung. Es ginge darum, konkrete Erfahrungen und Gestaltungsvorschläge zu verhandeln und nicht Zugehörigkeiten und Entscheidungsbefugnisse. So denke ich weiter, während der Herr neben mir wieder resigniert. Fast jedes Gespräch endet mit der Resignation, wobei auch mit Hoffnung und für manche mit dem Gefühl, etwas getan zu haben, durch ihre Unterschrift oder die Einwilligung, in ein paar Wochen noch einmal darauf angesprochen zu werden, ob sie den Omnibus finanziell fördern wollen.
Als jemand, der das Denken und das Ziehen von Schlüssen liebt, stelle ich allerdings fest, dass es um diese Praxis des Denkens und der Zuversicht so arm bestellt ist, dass ich mir ein größeres Blasebalg besorgen will, um all die Skepsis, die so schnell auftaucht, wegzublasen. Denn es ist eine Skepsis, die sich aus einem Menschenbild zieht, dass antithetisch zu Rutger Bregmans Buchtitel „Im grunde gut“ „Im grunde schlecht“ lautet. Diese Voraussetzung führt dazu, nichts versuchen zu wollen. Den Gedanken, dass sie nichts versuchen wollen, widerlegen diese Menschen in der Praxis direkt selbst. Denn schon der Schritt auf uns und den Omnibus zu ist ein Moment der Neugierde und des Mutes. Wir rennen niemandem hinterher, wer kein Interesse zeigt, wird weitergegangen gelassen. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen etwas versuchen. Sie wollen versuchen, zu verstehen, was wir machen oder wer wir sind oder was direkte demokratie ist oder was für eine volksabstimmung wir machen oder sie wollen versuchen, einen Blick ins Innere des Busses zu bekommen. Damit gehen sie davon aus, dass der Mensch, in dem Fall wir, im grunde gut sind, dass man ihm neugierig begegnen kann und dass es möglich ist, mit uns in ein Gespräch zu kommen. Sie gehen davon aus, dass ein Austausch und eine neue Erfahrung möglich ist, die wiederum etwas bewegen kann. Das sind wahrlich meist nur kleine Funken. Gestern erfasste der Wind einige von ihnen und mehrere Dutzend Euro wurden spontan in unsere Spendenbox geweht. Ein Mann mit einem Jungen, auf den er für eine Freundin aufpasste, gab uns zudem ein Eis und Cappucchino aus. Sie waren die ersten, die Sonntagabend auf uns gestoßen waren, als wir uns still und ruhig auf dem Platz niederließen. Weil wir am Ankommen waren, dankten wir der Eiseinladung beim Italiener gegenüber (rechts neben der Kirche) ab. Der Mann versprach uns das Eis für morgen. Er wird am nächsten Tag, als er tatsächlich am späten Nachmittag mit dem Jungen erscheint, nicht müde, zu betonen, dass man seine Versprechen einhalten muss. Die Italiener sind seine Freunde. Man muss sich mit ihnen gutstellen. Kleine Sätze, die erahnen lassen, aus welch anderer Welt er kommt. Dennoch kommt es zur Begegnung. Dies ist eine weitere Beobachtung: Viele Menschen, die irgendwie praktisch durchs Leben gehen, sind mutig, Kontakt zu versuchen, sehen schnell, den Wert unseres Sysyphos-artigen Anliegens und dass es dennoch, nein, ebendrum wichtig ist, auf je stimmige Weise Unterstützung auszudrücken. Denn in diesem Anliegen der direkten Demokratie, geht es nicht um den einzelnen oder Parteien, sondern um uns alle, und zwar so lange, wie wir gleichberechtigt und friedlich Lösungen für gemeinsame Herausforderungen finden wollen.