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Nachdenken über Bildung

Entstanden in einem Seminar im Sommersemester 2021 an der Universität Witten/Herdecke, veröffentlicht in der studentischen Campuszeitung „Pottpost“.

Mein bisheriger Werdegang als Mensch wäre nicht denkbar ohne das, was wir Bildung nennen. Die Institutionen, die sich der Bildung widmen, prägen das Leben aller heranwachsenden Menschen – aufgrund der Schulpflicht sogar zwangsweise. Abgesehen von einem bunten gap year befinde ich mich mit meinem jetziges Studium nach wie vor in einer Institution, deren explizites Ziel es ist, Menschen zu bilden. Aber was genau meint das eigentlich? Was ist dieses Bilden von Menschen für eine Tätigkeit?
Ich will mit diesem Text versuchen, darauf eine Antwort zu geben.
Wenn wir Bildung als Tätigkeit begreifen, stellt sich mir sofort die Frage, wem diese Tätigkeit zuzuschreiben ist? Bilde ich mich oder bilden mich die anderen? Ist es immer ein Sich-Bilden, eine aktive Tätigkeit oder ein passives Gebildet-Werden? Kann Bildung beides sein oder gibt es zwei Begriffe von Bildung, die auseinander gehalten werden müssen? Aber der Reihe nach. Wann kommt es überhaupt zu dieser Tätigkeit und warum?
Wenn ein Mensch vor einem Problem, einer Herausforderung, ja einer Frage steht. Eine Herausforderung verlangt von mir, dass ich mich strecke, dass ich mich eben bilde, um ihr gerecht zu werden. Der Zustand des Sich-Fragens ist eine Unruhe, die erst mit einer Antwort zur Ruhe kommt. Aber was kann als Antwort gelten: eine Erkenntnis, der Gewinn von Wissen, eine neue Fähigkeit? Mit der Zweiheit von Frage und Antwort öffnet sich ein Spannungsverhältnis, dessen Bewegung von der Frage zur Antwort, vom Öffnen zum Schließen das Bilden ist. Nur haben wir hiermit noch keine wirkliche Antwort vorliegen; es tun sich vielmehr weitere Fragen auf. Was zählt alles als Frage, was kann Antwort sein? Was regt diesen Prozess an, wie kommt es zu einem Sich-Fragen? Und muss ich den Weg von der Frage zu Antwort alleine gehen oder kann er für mich gegangen werden? Wie komme ich dazu mir selbst und euch Lesende dieses Textes, die Fragen zu stellen, die ich gerade stelle? Ich bin sicher nicht mit diesen Fragen geboren. Und doch gibt es auch keine Person, die sie mir vorgesetzt hat. Wieso mache ich in dem gedanklichen und physischen Umfeld, in dem ich mich derzeit befinde (bestehend aus allerlei Theorien und Schriften zu Philosophie, Politik und Ökonomik, aus Alt- und Neubau einer Universität, aus Professor*innen und Studierenden), ausgerechnet diese Frage der Bildung zu meiner eigenen?
Ohne darauf an dieser Stelle eine abschließende Antwort geben zu wollen, bei der ich notwendigerweise eine Theorie des Menschen zu skizzieren hätte, kann ich sagen: Ein Wechselspiel aus mir, als einem Ich, und meiner Umgebung steht am Anfang meiner Fragen.
Am Ende meiner Fragen stehen Antworten, die ein Nicht-Wissen, ein Nicht-Können, überwinden. Am Ende steht also ein Wissen, ein knowing-what oder ein knowing- how.
Auf der anderen Seite kommt es auch zur Bildung eines Menschen, wenn in einer Gesellschaft Menschen Wissen vermitteln, das für nützlich befunden wird. Ob ich mich in der ersten Klasse meiner Schulzeit frage, wie ich schriftlich mit anderen Menschen kommunizieren kann oder nicht, ist vollkommen egal. Es wird versucht, mir das Schreiben beizubringen. Nein, eigentlich wird versucht, vielen noch jungen Menschen das Gleiche zur gleichen Zeit beizubringen. Aber wie genau kann das funktionieren, Wissen zu vermitteln?
Der Schritt des Sich-Bildens ist ein Schritt der Aktivität, das Sich-Strecken nach einer Antwort ist eine Anstrengung. Das Sich-Fragen gibt die Anregung und die Kraft für diesen Schritt. Antworten zu vermitteln, würde bedeuten, dass das Sich-Fragen von außen angeregt werden müsste. Das reine Gefragt-Werden reicht hierfür noch nicht aus. Wenn mich jemand etwas fragt, der mir egal ist, wird mich die Frage nur in den seltensten Fällen aus der Ruhe bringen. Wenn mich hingegen eine Person etwas fragt, die mir etwas bedeutet, in die ich gar verliebt bin, so wird es mir kaum möglich sein, die Frage nicht zu meiner eigenen zu machen und sie beantworten zu wollen. Damit es auch im ersten Fall zu Bildung kommt, braucht es folglich eine stärkere Anregung, eine extrinsische Motivation oder pure Autorität. Nur so wird der zu bildende Mensch (möglicherweise) aus der Ruhe gebracht. Möglicherweise, denn es kann ebenso gut sein, dass er sich nicht die eigentlich intendierte Frage stellt, sondern vielmehr die Frage, wie er die Autorität bzw. externe Erwartung zufriedenstellen bzw. treffen kann, sodass sie ihn wieder in Ruhe lässt. Dafür wird er Teile der eigentlichen Frage beantworten müssen, aber wohl kaum so hoch springen, wie er könnte. Und dann? Was passiert dann?
Ich suche nach Erklärungen, die mich befriedigen. Entweder bei anderen Menschen oder bei mir selbst. Manchmal reicht ein Satz, ein anderes Mal ein Text oder im praktischen Kontext z. B. eine bestimmte Art, die Finger beim Klavierspielen anzuspannen, die ich entdecke. Für einen Moment komme ich zur Ruhe. Doch anders betrachtet passiert viel mehr. All die erlangten Fähigkeiten vom Schreiben über das Klavierspielen über einzelne Sätze, die ich mühsam errungen habe, oder die gelungenen Erklärungen anderer Menschen, die ich mir zu eigen machte, all das ermöglicht es mir, mehr und genauere Fragen zu stellen. Bildung ist nichts anderes als der Weg zu mir selbst. Es ist allerdings – das muss betont werden – ein langer Weg bis zu den Fragen, die nur ich beantworten kann. Gelangt ein Mensch dorthin, wird das die Welt verändern. Ein neues Kunstwerk, eine unerhörte und schöne Symphonie, ein wunderbares Buch, eine bedeutende Unternehmung entsteht. Die Wege sind unendlich verschieden und vielfältig und verweisen doch auf das Gleiche. All jene Menschen haben es geschafft, ihrer Perspektive auf die Welt Ausdruck zu verleihen. Sie haben eigene Antworten auf Fragen gefunden, die nur sie sich in dieser Klarheit und Präzision stellen konnten.
Mir scheint, wir verwechseln häufig Bildung mit Wissen. Bildung ist viel mehr als nur Wissen. Sie ist so gesehen die Befreiung des Selbst. Sie ist der Weg zu wahrer Selbsterkenntnis. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, dieser Weg könne ganz allein gegangen werden. Wir brauchen andere Menschen, die uns mitteilen, falls die eigene Antwort nicht die entsprechende Frage beantwortet und die einen Hinweis geben können, woran das eventuell liegt. Diese letzten (sehr sokratischen) Sätze werfen jedoch nur den Blick auf die eine Seite. Denn wenn es einen Weg zu mir selbst gibt, so gibt es auch Wege, die von mir wegführen.
Ich gehe diese Wege weg von mir, wenn ich mich nicht mehr strecke, um meine eigenen Fragen zu beantworten. Wenn es lange her ist, dass eine Frage mich in Ekstase, eine pulsierende Aufregung, eben eine wirkliche Unruhe versetzt hat.
Wie gestalten wir ein „inspirierendes Umfeld“ für „Studierende[, die] neugierig und mit eigenen Fragen an die Universität kommen“? (UW/H 2021) Ganz sicher nicht durch Kurse gefüllt mit Lehrbüchern, die wir alle zur gleichen Zeit aus dem Grund behandeln, weil es so im Modulhandbuch steht!

Ein inspirierendes Umfeld schaffen, hieße in meinen Augen, eine Kultur des Studierens zu praktizieren von Menschen, die ihren eigenen Fragen nachgehen und davon ausgehend ihre Kurse wählen und darüber hinaus womöglich eigene Ideen für die Umsetzung der Lehre entwickeln. An der Universität Witten/Herdecke ist es erlaubt, möglich, ja erwünscht seinen eigenen Fragen, aber d. h. seinem eigenen Bildungsweg, nachzugehen. Doch diese Kultur will gelernt werden. Gerade Menschen, die ein dutzend oder mehr Jahre an Bildungsorten verbracht haben, an denen sie nur selten zu eigenen Fragen motiviert wurden, solch eine Kultur zu lernen, werden nicht von heute auf morgen damit anfangen können.
Ich frage mich, welche Veranstaltungen und Formate an meiner Fakultät Wirtschaft und Gesellschaft der UW/H fehlen, um dorthin zu kommen, diese Kultur wirklich auszuleben und von Anfang an, an neue Studierende weiterzugeben? Und ich frage mich, wie die UW/H es schaffen kann, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden und gleichzeitig in einem komplexen Bildungs-, nein eigentlich Machtsystem aus Hochschulgesetzen, Akkreditierungsmechanismen und Universitätsrankings zu bestehen? Auch durch diese Fragen bilde ich mich. Vielleicht mehr als durch alle anderen.

Jannik Howind, Witten 12.06.2021

Ein Kommentar

  • Andrea

    Zu deinen Gedanken über das BildungsWesen fällt mir die Methode des ‚coyote teaching‘ ein, der ich anfänglich bei meiner wildnispädagogischen Weiterbildung begegnet bin:

    (Aus der Webseite der kojote-akademie):
    (…) „Coyote-Teaching“. Der Begriff wurde von dem Apachen, Schamanen und Scout „Stalking Wolf“ geprägt. Der Kojote galt bei fast allen Nordamerikanischen Ureinwohnern als ein großer Lehrer, der sein Wissen und seine Weisheit in Form von Tricks und Späßen weitergibt und den Lernenden unbemerkt Wissen aufnehmen läßt. Er schafft die Notwendigkeit, die den Lernenden ins Tun und Handeln bringt und ihn befähigt, selbst Antworten zu finden. Die Natur wird zum eigentlichen Lehrer. Kojote-Teaching ermöglicht ein tiefes und selbständiges Lernen durch persönliche Erfahrung und Initiative. Fehler sind hierbei erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht. Das Gelernte wird so nicht zu etwas Auferlegtem, sondern zu nachhaltigem Wissen und Können.

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